Iwan Turgenew - Hamlet und Don Quichotte
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lvan S. Turgenev
Hamlet und Don Quichotte
Geehrte Anwesende!
Die erste Auflage der Shakespeare‘schen Tragödie »Hamlet« und der erste Theil des Cervante'schen »Don Quichotte« erschienen in ein und demselben Jahre, zu Anfang des XVII. Jahrhunderts.
Diese zufällige Gieichzeitigkeit erschien mir von Bedeutung. Die Vergleichung der beiden genannten Werke führte mich auf eine Reihe von Gedanken: ich bitte um die Erlaubniß, diese Gedanken Ihnen mitzutheilen, indem ich im Voraus auf Ihre Nachsicht rechne. »Wer den Dichter will verstehen, muß in Dichters Lande gehen«, sagt Goethe. Ein Prosaiker hat kein Recht, dies zu beanspruchen; er darf jedoch erwarten, daß seine Leser – oder Zuhörer – geneigt sind, ihm auf seinen Wanderungen, in seinen Forschungen zu folgen.
So manche meiner Anschauungen wird Sie, geerhrte Anwesende, wegen ihrer Ungewöhnlichkeit vielleicht befremden. Aber darin eben besteht der eigenthümliche Vorzug großer poetischer Werke, denen der Genius ihrer Schöpfer eine unvergängliche Lebenskraft eingehaucht hat, daß die auf sie – wie auf das Leben überhaupt – sich beziehenden Anschauungen unendlich mannigfaltig, ja widersprechend, und doch zur selben Zeit gleich richtig sein können. Wie oft ist »Hamlet« kommentirt worden, und wie viel Kommentare sind noch zu erwarten. Zu welchen verschiedenartigen Schlüssen hat nicht das Studium dieses wahrhaft unetschöpflichen Typus geführt! – »Don Quichotte« bietet – wegen des Eigenthümlichen seiner Aufgabe, wegen der wahrhaft großartigen Klarheit der Erzählung, die wie von einer südlichen Sonne durchleuchtet erscheint, wenig Veranlassung zu Erläuterungen. Leider besitzen wir Russen keine gute Uebersetzung des »Don Quichotte«. Die meisten von uns behalten von ihm ziemlich unbestimmte Erinnerungen. Unter dem Worte »Don Quichotte« denken wir uns nichts Anderes, als einen Hanswurst – das Wort »Don Quichotterie« ist bei uns gleichbedeutend mit Unsinnigkeit, während wir dasselbe als ein Symbol höherer Selbstaufopferung – nur von einer komischen Seite aufgefaßt – verstehen sollten. Eine gute Uebersetzung des »Don Quichotte« wäre ein wahrhaftes Verdienst dem Publikum gegenüber; die Dankbarkeit Aller erwartet den Schriftsteller, der uns dieses einzig dastehende Wert in seiner ganzen Schönheit wiedergäbe. – Doch kehren wir zu dem Gegenstande unserer Unterhaltung zurück.
Ich sagte, daß mir das gleichzeitige Erscheinen des »Hamlet« und des »Don Quichotte« von Bedeutung erschienen sei. Es kam mir vor, als wenn in diesen beiden Figuren die beiden fundamentalen, entgegengesetzten Eigenthümlichkeiten der menschlichen Natur ein typisches Dasein gewonnen hätten – die beiden Pole jener Axe, um welche sich das Menschenleben dreht. Es schien mir, als ob alle Menschen mehr oder weniger dein einen oder dem andern dieser beiden Typen unterzuordnen seien, daß fast jeder von uns dem Don Quichotte oder dem Hamlet sich nähere. Freilich, heutzutage giebt es der Hamlete bedeutend mehr als der Don-Quichotte; aber auch die Letzteren haben nicht aufgehört zu existiren.
Erklären wir uns deutlicher.
Alle Menschen leben – bewußt oder unbewußt – kraft ihrer spezifischen Prinzipien, ihrer Ideale, d. h. kraft dessen, was sie als Wahrheit, Schönheit, Güte anerkennen. Die Einen empfangen ihr Ideal als etwas bereits Fertiges, mit bestimmten, historisch entwickelten Formen; sie leben, indem sie ihr Dasein nach diesen Idealen einrichten, wobei es allerdings oft vorkommt, daß sie, unter dem Einflusse der Leidenschaften oder des Zufalls, von demselben adweichen. Immerhin diskutiren sie dasselbe nicht, zweifeln nicht an ihm. Andere dagegen unterwerfen es der Analyse ihres eigenen Denkens. Wie dem auch sei, ich glaube nicht zu irren, wenn ich sage, daß für alle Menschen dieses Ideal, diese Grundlage und dieses Ziel ihrer Existenz entweder außer ihnen, oder in ihnen selbst liegt – mit anderen Worten: für einen jeden von uns nimmt die erste Stelle entweder sein eigenes Ich, oder etwas Anderes, was er als ein Höheres anerkennt, ein. Man könnte mir einwenden, das wirkliche Leben lasse solch’ scharfe Abgrenzungen nicht zu, bei einunddemselben Individuum wechselten diese beiden Anerkennungen, ja könnten sogar bis zu einem gewissen Grade ineinanderfließen. Es ist mir aber auch nicht eingefallen, zu behaupten, daß in der menschlichen Natur Abänderungen und Widersprüche etwas Unmögliches seien; ich wollte blos aus die beiden verschiedenartigen Beziehungen des Menschen zu seinem Ideale hinweisen – und werde setzt bemüht sein, darzulegen: in welcher Weise diese beiden verschiedenartigen Beziehungen nach meinem Ermessen in den von mir gewählten beiden Tvpen verkörpert sind.
Wir beginnen mit Don Quichotte.
Was drückt Don Quichotte an sich aus? Wollen wir ihn nicht mit dem hastigen Blicke betrachten, der sich nur an Oberflächlichkeiten und Details heftet! Wir wollen in Don Quichotte nicht bloß einen Ritter der traurigen Gestalt sehen, eine Figur, die zum Auslachen der alten ritterlichen Romane geschaffen ist. Es ist bekannt, daß die Bedeutung dieser Person sich unter der Hand seines mustergültigen Schöpfers ausgedehnt hat, und daß der Don Quichotte des zweiten Theiles – der liebenswürdige Gesellschafter von Herzögen und Herzoginnen, der weise Lehrer des Waffenträgers vom Gouverneur – daß dieser Don Quichotte nicht mehr derselbe ist, als den er sich uns im ersten Theile des Romans, besonders im Anfange desselben vorgestellt hat – nicht mehr jener seltsame und komische Kauz, der so reichlich mit Hieben versorgt wird. Deshalb wollen wir auch in unserer Betrachtung auf den Grund gehen. – Ich wiederhole: Was drückt Don Quichotte an sich aus? Den Glauben zu allererst; den Glauben an etwas Ewiges, Unerschütterliches, – mit einem Worte an das Wahre, an die Wahrheit, die außerhalb des einzelnen Menschen liegt, die sich ihm nicht leicht darbietet, die da erfordert daß man ihr diene und Opfer bringe; die aber der Beständigkeit des Dienstes und der Macht der Opfer zugänglich ist. Don Quichotte ist von Ergebenheit zu einem Ideal durchdrungen, welchem zulieb er geneigt ist, sich allen möglichen Entsagungen auszusetzen, sein Leben zu opfern. Sein eigenes Leben schätzt er nur insofern, als es als Mittel zur Realisirung des Ideals dienen kann, als Mittel zur Verpflanzung der Wahrheit und der Gerechtigkeit auf die Erde. Man wird mir einwenden, daß seine gestörte Einbildungskraft dieses Ideal aus der phantastischen Welt der ritterlichen Romane geschöpft habe; ich gebe es zu – und eben hierin besteht die Komik der Don-Quichotte’schen Persönlichkeit. Aber das Ideal selbst bleibt trotzdem in seiner ganzen, unversehrten Reinheit. Für sich allein zu leben, nur für sich zu sorgen – das hätte Don Quichotte für schändlich gehalten. Er lebt ganz und gar (wenn man sich so ausdrücken darf) außer sich, für die Anderen, für die Brüder, um das Böse auszurotten, zu wirken gegen die der Menschheit feindlichen Gäste: gegen die Zauberer, die Riesen, d. h. gegen die Unterdrücker. Er besitzt keine Spur von Egoismus, er denkt nicht an sich, er ist durch und durch Selbstaufopferung – beachten Sie nur dieses Wort! – er glaubt, glaubt fest und ohne Hintergedanken. Deshalb ist er auch unerschrocken, geduldig, begnügt sich mit der allerdürftigsten Nahrung, mit der allerarmseligsten Kleidung: er hat keine Zeit, sich um solche Kleinigkeiten zu kümmern. Sanft von Herzen, ist er groß an Geist und kühn; seine rührende Frömmigkeit stört nicht seine Freiheit.
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