Eines Tages, nachdem ich wieder einmal vergeblich Straßen und Plätze nach dem Mann mit der Plakatstange abgesucht hatte und mehrmals lauernd an der Mauer mit dem unsichtbaren Tor vorbeigestreift war, begegnete ich in der Martinsvorstadt einem Leichenzug. Indem ich die Gesichter der Leidtragenden betrachtete, die hinter dem Sargwagen her trottelten, war mein Gedanke: Wo in dieser Stadt, wo in dieser Welt lebt der Mensch, dessen Tod mir einen Verlust bedeuten würde? Und wo der Mensch, dem mein Tod etwas bedeuten könnte? Da war zwar Erika, meine Geliebte, nun ja; aber wir lebten seit langem in sehr loser Verbindung, sahen uns selten, ohne Streit zu bekommen, und zur Zeit wußte ich nicht einmal ihren Aufenthaltsort. Sie kam zuweilen zu mir, oder ich reiste zu ihr, und da wir beide einsame und schwierige Menschen sind, irgendwo in der Seele und in der Seelenkrankheit einander verwandt, blieb trotz allem eine Bindung zwischen uns bestehen. Aber würde sie nicht vielleicht aufatmen und sich erleichtert fühlen, wenn sie meinen Tod erführe? Ich wußte es nicht, wußte auch nichts über die Zuverlässigkeit meiner eigenen Gefühle. Man muß im Normalen und Möglichen leben, um über solche Dinge etwas wissen zu können.
Unterdessen hatte ich mich, einer Laune folgend, dem Trauerzug angeschlossen und trabte hinter den Leidtragenden her zum Friedhof mit, einem modernen zementenen Patentfriedhof mit Krematorium und allen Schikanen. Unser Toter wurde aber nicht verbrannt, sondern sein Sarg vor einem schlichten Erdloch abgeladen, und ich sah dem Pfarrer und den übrigen Aasgeiern, Angestellten einer Begräbnisanstalt, bei ihren Verrichtungen zu, welchen sie den Anschein einer Feierlichkeit und Trauer zu geben suchten, so daß sie sich vor lauter Theater und Verlegenheit und Verlogenheit überanstrengten und ins Komische gerieten, sah, wie die schwarze Berufsuniform an ihnen niederwallte und wie sie sich Mühe gaben, die Trauergesellschaft in Stimmung zu bringen und zur Kniebeuge vor der Majestät des Todes zu zwingen. Es war vergebliche Mühe, niemand weinte, der Tote schien allen entbehrlich zu sein. Auch war niemand zu frommen Stimmungen zu überreden, und als der Pfarrer die Gesellschaft immer wieder als »liebe Mitchristen« anredete, sahen alle die schweigsamen Geschäftsgesichter dieser Kaufleute und Bäckermeister und ihrer Frauen in krampfhaftem Ernst vor sich nieder, verlegen und verlogen und von keinem andern Wunsche bewegt, als daß diese unbehagliche Veranstaltung bald ihr Ende finden möchte. Nun, sie ging zu Ende, die beiden vordersten unter den Mitchristen drückten dem Redner die Hand, rieben sich am nächsten Rasenbord den feuchten Lehm, in den sie ihren Toten gelegt hatten, von den Schuhen, die Gesichter wurden unverweilt wieder gewöhnlich und menschlich, und eines von ihnen schien mir plötzlich bekannt – es war, so schien mir, der Mann, der damals das Plakat getragen und mir das Büchlein in die Hand gedrückt hatte.
In dem Augenblick, da ich ihn zu erkennen glaubte, wandte er sich um, bückte sich, machte sich an seinen schwarzen Hosen zu schaffen, die er umständlich über den Schuhen hockkrempelte, und lief dann hurtig davon, einen Regenschirm unter den Arm geklemmt. Ich lief ihm nach, holte ihn ein, nickte ihm zu, doch schien er mich nicht zu erkennen.
»Ist heute keine Abendunterhaltung?« fragte ich und versuchte ihm zuzublinzeln, so wie Mitwisser von Geheimnissen es untereinander tun. Aber es war allzu lange her, seit solche mimische Übungen mir geläufig waren, hatte ich bei meiner Lebensweise doch beinahe das Sprechen verlernt; ich fühlte selbst, daß ich nur eine dumme Grimasse schneide.
»Abendunterhaltung?« brummte der Mann und sah mir fremd ins Gesicht. »Gehen Sie in den Schwarzen Adler, Mensch, wenn Sie Bedürfnisse haben.« Ich war in der Tat nicht mehr gewiß, ob er es sei. Enttäuscht ging ich weiter, ich wußte nicht wohin, es gab keine Ziele, keine Bestrebungen, keine Pflichten für mich. Scheußlich bitter schmeckte das Leben, ich fühlte, wie der seit langem gewachsene Ekel seine Höhe erreichte, wie das Leben mich ausstieß und wegwarf. Wütend lief ich durch die graue Stadt, alles schien mir nach feuchter Erde und Begräbnis zu riechen. Nein, an meinem Grabe durfte keiner von diesen Totenvögeln stehen, mit seinem Talar und seinem sentimentalen mitchristlichen Gesäusel! Ach, wohin ich blicken, wohin ich die Gedanken schicken mochte, nirgends wartete eine Freude, nirgends ein Zuruf auf mich, nirgends war Lockung zu spüren, es stank alles nach fauler Verbrauchtheit, nach fauler Halbundhalbzufriedenheit, es war alles alt, welk, grau, schlapp, erschöpft. Lieber Gott, wie war es möglich? Wie hatte es mit mir dahin kommen können, mit mir, dem beflügelten Jüngling, dem Dichter, dem Freund der Musen, dem Weltwanderer, dem glühenden Idealisten? Wie war das so langsam und schleichend über mich gekommen, diese Lähmung, dieser Haß gegen mich und alle, diese Verstopftheit aller Gefühle, diese tiefe böse Verdrossenheit, diese Dreckhölle der Herzensleere und Verzweiflung?
Als ich an der Bibliothek vorüberkam, begegnete mir ein junger Professor, mit dem ich früher hie und da ein Gespräch geführt hatte, den ich bei meinem letzten Aufenthalt in dieser Stadt, vor einigen Jahren, sogar mehrmals in seiner Wohnung aufgesucht hatte, um mit ihm über orientalische Mythologien zu reden, ein Gebiet, mit dem ich damals viel beschäftigt war. Der Gelehrte kam mir entgegen, als ich schon im Begriff war, an ihm vorüberzugehen. Er stürzte sich mit großer Herzlichkeit auf mich, und ich, in meiner jämmerlichen Verfassung war ihm halb und halb dankbar dafür. Er war erfreut und wurde lebhaft, erinnerte mich an Einzelheiten aus unsern einstigen Gesprächen, versicherte, daß er meinen Anregungen viel verdanke und oft an mich gedacht habe; selten habe er seitdem so angeregte und ergiebige Auseinandersetzungen mit Kollegen gehabt. Er fragte, seit wann ich in der Stadt sei (ich log: seit wenigen Tagen) und warum ich ihn nicht aufgesucht habe. Ich blickte dem artigen Mann in sein gelehrtes gutes Gesicht, fand die Szene eigentlich lächerlich, genoß aber doch wie ein verhungerter Hund den Brocken Wärme, den Schluck Liebe, den Bissen Anerkennung. Gerührt grinste der Steppenwolf Harry, im trocknen Schlunde lief ihm der Geifer zusammen, Sentimentalität bog ihm wider seinen Willen den Rücken. Ja, ich log mich also eifrig heraus, daß ich nur vorübergehend hier sei, studienhalber, und mich auch nicht recht wohl fühle, sonst hätte ich ihn natürlich einmal besucht. Und als er mich nun herzlich einlud, doch diesen Abend bei ihm zu verbringen, da nahm ich dankbar an, bat ihn, seine Frau zu grüßen, und dabei taten mir beim eifrigen Reden und Lächeln die Backen weh, welche diese Anstrengungen nicht mehr gewohnt waren. Und während ich, Harry Haller, da auf der Straße stand, überrumpelt und geschmeichelt, höflich und beflissen, und dem freundlichen Mann in das kurzsichtige gute Gesicht lächelte, stand der andere Harry daneben und grinste ebenfalls, stand grinsend und dachte, was ich doch für ein eigentümlicher, verdrehter und verlogener Bruder sei, daß ich vor zwei Minuten noch gegen die ganze verfluchte Welt grimmig die Zähne gefletscht hatte und jetzt beim ersten Anruf, beim ersten harmlosen Gruß eines achtbaren Biedermanns gerührt und übereifrig ja und amen sagte und mich im Genuß von ein bißchen Wohlwollen, Achtung und Freundlichkeit wie ein Ferkel walzte. So standen die beiden Harrys, beides außerordentlich unsympathische Figuren, dem artigen Professor gegenüber, verhöhnten einander, beobachteten einander, spuckten voreinander aus und stellten sich, wie immer in solchen Lagen, wieder einmal die Frage: ob das nun einfach menschliche Dummheit und Schwäche sei, allgemeines Menschenlos, oder ob dieser sentimentale Egoismus, diese Charakterlosigkeit, diese Unsauberkeit und Zwiespältigkeit der Gefühle bloß eine persönliche, steppenwölfische Spezialität sei. War die Schweinerei allgemein menschlich, nun, dann konnte sich meine Weltverachtung mit erneuter Wucht darauf stürzen; war es nur meine persönliche Schwäche, so ergab sich daraus Anlaß zu einer Orgie der Selbstverachtung.
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