Eines Tages sprach der Pater ihn an; er hatte nichts von dem breiten, betont wohlwollenden, betont gutgelaunten und etwas onkelhaften Tonfall, der zum Stil des Hauses zu gehören schien. Er lud Josef ein, ihn nach der Vesper in seinem Zimmer zu besuchen. »Sie finden in mir,« sagte er mit einer leisen und beinahe scheuen Stimme, aber wundervoll genau akzentuierend, »zwar keinen Kenner der Geschichte Kastaliens und noch weniger einen Glasperlenspieler, aber da nun, wie es scheint, unsre beiden so verschiedenen Orden sich mehr und mehr befreunden, möchte ich mich davon nicht ausschließen und möchte auch meinerseits aus Ihrer Anwesenheit je und je ein wenig Gewinn ziehen.« Er sprach mit vollkommenem Ernst, aber die leise Stimme und das alte kluge Gesicht gaben seinen überhöflichen Worten jene wunderbar zwischen Ernst und Ironie, Devotion und leisem Spott, Pathos und Spielerei schillernde Vieldeutigkeit, wie man sie etwa beim Höflichkeits- und Geduldspiel endloser Verneigungen bei der Begrüßung zwischen zwei Heiligen oder zwei Kirchenfürsten empfinden mag. Diese ihm von den Chinesen her so wohlbekannte Mischung aus Überlegenheit und Spott, aus Weisheit und eigensinnigem Zeremoniell war für Josef Knecht ein Labsal; es kam ihm zum Bewußtsein, daß er diesen Ton – auch der Glasperlenspielmeister Thomas beherrschte ihn meisterlich – seit geraumer Zeit nicht mehr vernommen habe; erfreut und dankbar nahm er die Einladung an. Als er am Abend des Paters abgelegene Wohnung am Ende eines stillen Seitenflügels aufsuchte und sich besann, an welche Tür er zu klopfen habe, hörte er zu seiner Überraschung Klaviermusik. Er horchte, es war eine Sonate von Purcell, anspruchlos und ohne Virtuosität, aber taktfest und sauber gespielt; innig und freundlich klang die reine, innig heitere Musik mit ihren süßen Dreiklängen zu ihm heraus und gemahnte ihn der Zeit in Waldzell, da er Stücke dieser Art mit seinem Freund Ferromonte auf verschiedenen Instrumenten geübt hatte. Er wartete genußvoll lauschend das Ende der Sonate ab, es tönte in dem stillen, dämmrigen Korridor so einsam und weltfern, und so tapfer und unschuldig, so kindlich und überlegen zugleich wie jede gute Musik inmitten der unerlösten Stummheit der Welt. Er pochte an die Tür, Pater Jakobus rief »Herein!« und empfing ihn mit seiner bescheidenen Würde, am kleinen Klavier brannten noch zwei Kerzen. Ja, sagte Pater Jakobus auf Knechts Frage, er spiele jeden Abend eine halbe oder auch eine ganze Stunde, er beende sein Tagewerk mit dem Einbruch der Dunkelheit und verzichte in den Stunden vor dem Schlafengehen auf Lesen und Schreiben. Sie sprachen von Musik, von Purcell, von Händel, von der uralten Musikpflege bei den Benediktinern, dem recht eigentlich musischen Orden, dessen Geschichte kennenzulernen Knecht Begierde zeigte. Das Gespräch wurde lebhaft und streifte hundert Fragen, die geschichtlichen Kenntnisse des Alten schienen wahrhaft wunderbar zu sein, doch leugnete er nicht, daß die Geschichte Kastaliens, des kastalischen Gedankens und des dortigen Ordens ihn wenig beschäftigt und interessiert habe, machte auch kein Hehl aus seiner kritischen Stellung zu diesem Kastalien, dessen »Orden« er als eine Nachahmung der christlichen Kongregationen betrachtete, und zwar im Grunde als eine blasphemische Nachahmung, da ja der kastalische Orden keine Religion, keinen Gott und keine Kirche zum Fundament habe. Knecht blieb bei dieser Kritik respektvoll Zuhörer, gab immerhin zu bedenken, daß über Religion, Gott und Kirche außer den benediktinischen und römisch-katholischen Auffassungen noch andre möglich seien und existiert hätten, welchen man weder die Reinheit des Wollens und Bestrebens noch einen tiefen Einfluß auf das geistige Leben absprechen könne.
»Richtig,« sagte Jakobus, »Sie denken dabei unter andrem an die Protestanten. Sie haben die Religion und Kirche nicht zu erhalten vermocht, aber sie haben zuzeiten viel Tapferkeit gezeigt und vorbildliche Männer gehabt. Es gab einige Jahre in meinem Leben, da gehörten die verschiedenen Versöhnungsversuche zwischen den feindlichen christlichen Bekenntnissen und Kirchen zu meinen bevorzugten Studienobjekten, namentlich die der Epoche um 1700, wo wir Leute wie den Philosophen und Mathematiker Leibniz und dann den wunderlichen Grafen Zinzendorf um die Wiedervereinigung der verfeindeten Brüder bemüht finden. Überhaupt ist das achtzehnte Jahrhundert, so schnellfertig und dilettantisch sein Geist oft erscheinen mag, geistesgeschichtlich merkwürdig interessant und doppeldeutig, und gerade die Protestanten jener Zeit haben mich des öfteren beschäftigt. Ich habe da einst einen Philologen, Lehrer und Erzieher großen Formates entdeckt, einen schwäbischen Pietisten übrigens, einen Mann, dessen moralische Nachwirkung sich volle zweihundert Jahre deutlich nachweisen läßt – aber wir kommen da auf ein andres Gebiet, kehren wir zur Frage nach der Legitimität und geschichtlichen Sendung der eigentlichen Orden zurück…«
»Ach nein,« rief Josef Knecht, »bitte verweilen Sie noch bei diesem Lehrer, von dem Sie eben sprechen wollten, beinahe glaube ich ihn erraten zu können.«
»So raten Sie.«
»Ich dachte zuerst an den Hallenser Francke, aber es muß ja ein Schwabe sein, und da kann ich an keinen andern denken als an Johann Albrecht Bengel.«
Ein Lachen klang auf, und ein Glanz von Freude verklärte das Gesicht des Gelehrten. »Sie überraschen mich, Lieber,« rief er lebhaft, »es war richtig Bengel, den ich im Sinn hatte. Woher wissen Sie denn von ihm? Oder gehört es etwa in Ihrer erstaunlichen Provinz zum Selbstverständlichen, daß man so entlegene und vergessene Dinge und Namen kennt? Seien Sie versichert: wenn Sie sämtliche Patres, Lehrer und Schüler unsres Klosters abfragen wollten und auch noch die der letzten paar Generationen dazu, es würde nicht einer diesen Namen wissen.«
»Auch in Kastalien wüßten ihn wenige, vielleicht keiner außer mir und zweien meiner Freunde. Ich war einmal mit Studien aus dem achtzehnten Jahrhundert und dem Bereich des Pietismus beschäftigt, zu einem privaten Zwecke nur, und da sind ein paar schwäbische Theologen mir aufgefallen und gewannen meine Bewunderung und Ehrfurcht, und unter ihnen besonders dieser Bengel, er schien mir damals das Ideal eines Lehrers und Jugendleiters zu sein. Ich war so von diesem Mann eingenommen, daß ich mir sogar ein Bildnis aus einem alten Buche photographieren ließ und es eine Zeitlang über meinem Schreibtisch angeheftet hatte.«
Der Pater lachte noch immer. »Wir begegnen uns da unter einem ungewöhnlichen Zeichen,« sagte er. »Es ist ja schon merkwürdig, daß Sie und ich beide bei unsern Studien auf diesen vergessenen Mann gestoßen sind. Vielleicht noch merkwürdiger ist es, daß es diesem schwäbischen Protestanten gelungen ist, fast gleichzeitig auf einen Benediktinerpater und einen kastalischen Glasperlenspieler zu wirken. Übrigens stelle ich mir Ihr Glasperlenspiel als eine Kunst vor, zu der es vieler Phantasie bedarf, und wundere mich, daß ein so streng nüchterner Mann wie Bengel Sie so sehr anziehen konnte.«
Auch Knecht lachte jetzt vergnügt. »Nun,« sagte er, »wenn Sie sich an Bengels vieljährige Studien über die Offenbarung des Johannes und sein Auslegungssystem für die Prophezeiungen dieses Buches erinnern, so müssen Sie doch zugeben, daß unsrem Freunde auch der Gegenpol der Nüchternheit nicht ganz fremd war.«
»Das stimmt,« gab der Pater heiter zu. »Und wie erklären Sie sich solche Gegensätze?«
»Wenn Sie mir einen Scherz erlauben wollen, so würde ich sagen: was Bengel gefehlt hat und was er, ohne es zu wissen, sehnlich gesucht und begehrt hat, war das Glasperlenspiel. Ich rechne ihn nämlich zu den heimlichen Vorläufern und Ahnen unsres Spiels.«
Vorsichtig und wieder ernst geworden, fragte Jakobus:
»Ein wenig kühn, scheint mir, gerade Bengel für Ihre Ahnentafel zu annektieren. Und wie rechtfertigen Sie das?«
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