Von diesen Gestalten fühlte er sich angezogen, diese steinernen und hölzernen Figuren dachte er sich gerne in geheimnisvoller Beziehung zu seiner Person, etwa als unsterbliche allwissende Paten, Beschützer und Wegweiser seines Lebens. Ebenso spürte er eine Liebe und eine geheime holde Beziehung zu den Säulen und Kapitälen der Fenster und Türen, den Ornamenten der Altäre, zu diesen schön profilierten Stäben und Kränzen, zu diesen Blumen und krautig wuchernden Blättern, die aus dem Stein der Säulen brachen und sich so sprechend und eindringlich falteten. Es schien ihm ein wertvolles, inniges Geheimnis: daß es außer der Natur, ihren Pflanzen und Tieren noch diese zweite, stumme, von Menschen gemachte Natur gab, diese Menschen, Tiere und Pflanzen aus Stein und Holz. Nicht selten brachte er eine Freistunde damit hin, diese Figuren, Tierköpfe und Blätterbündel nachzuzeichnen, und auch wirkliche Blumen, Pferde, Menschengesichter versuchte er manchmal zu zeichnen.
Und sehr liebte er die Kirchengesänge, namentlich die Marienlieder. Er liebte den festen strengen Gang dieser Gesänge, ihre immer wiederkehrenden Anflehungen und Lobpreisungen. Er konnte ihrem ehrwürdigen Sinn anbetend folgen oder konnte auch, des Sinnes vergessend, nur die feierlichen Maße dieser Verse lieben und sich von ihnen erfüllen lassen, von den langgezogenen tiefen Tönen, von den vollen tönenden Vokalen, von den frommen Wiederholungen. Im innersten Herzen liebte er nicht die Gelehrsamkeit, nicht Grammatik und Logik, obwohl auch sie ihre Schönheit hatten, sondern mehr liebte er die Bilder- und Klangwelt der Liturgie.
Jmmer wieder unterbrach er auch für Augenblicke die zwischen ihm und den Mitschülern eingetretene Entfremdung. Auf die Dauer war es ihm ärgerlich und langweilig, von Ablehnung und Kühle umgeben zu sein; immer wieder brachte er einen mürrischen Pultnachbarn zum Lachen, einen schweigsamen Bettnachbarn zum Plaudern, gab sich eine Stunde lang Mühe, warb und war lieb und gewann ein paar Augen, ein paar Gesichter, ein paar Herzen für eine Weile; für sich zurück. Zweimal erreichte er es durch solche Annäherungen, sehr wider seine Absicht, daß er wieder aufgefordert wurde, mit »ins Dorf zu gehen«. Da erschrak er und zuckte rasch zurück. Nein, er ging nicht mehr ins Dorf, und es war ihm gelungen, das Mädchen mit den Zöpfen zu vergessen, ihrer nie mehr zu gedenken, oder doch beinahe nie mehr.
Lange hatten Narzissens Belagerungsversuche das Geheimnis Goldmunds uneröffnet gelassen. Lange hatte er scheinbar vergeblich sich bemüht, ihn zu erwecken, ihn die Sprache zu lehren, in der das Geheimnis mitteilbar wäre. Was der Freund ihm von seiner Herkunft und Heimat erzählt hatte, hatte kein Bild ergeben. Es war da ein schattenhafter, gestaltloser, aber verehrter Vater, und dann die Sage von einer schon vor langer Zeit verschollenen oder umgekommenen Mutter, die nur noch ein blasser Name war. Allmählich hatte Narziß, im Seelenlesen bewandert, erkannt, daß sein Freund zu den Menschen gehöre, welchen ein Stück aus ihrem Leben verlorengegangen ist, welche unter dem Druck irgendeiner Not oder Bezauberung sich dazu verstehen mußten, einen Teil ihrer Vergangenheit zu vergessen. Er sah ein, daß bloßes Befragen und Belehren hier unnütz sei; er sah auch, daß er allzusehr an die Macht der Vernunft geglaubt und viel vergebens geredet habe.
Nicht vergeblich aber war die Liebe geblieben, die ihn mit dem Freunde verband, und die Gewohnheit vielen Zusammenseins. Trotz aller tiefen Verschiedenheit ihrer Wesen hatten sie beide viel voneinander gelernt; es war zwischen ihnen neben der Vernunftsprache allmählich eine Seelen- und Zeichensprache entstanden, so wie zwischen zwei Wohnstätten zwar eine Straße sein mag, auf welcher Wagen fahren und Reiter reiten können, daneben aber noch viele kleine Spielwege, Nebenwege, Schleichwege entstehen: Wegchen für Kinder, Pfade für Verliebte, kaum bemerkbare Wege von Hund und Katze. Allmählich hatte Goldmunds beseelte Einbildungskraft auf manchen magischen Wegen sich in des Freundes Gedanken und ihre Sprache eingeschlichen, und dieser wieder hatte manches von Goldmunds Sinn und Art ohne Worte verstehen und mitfühlen gelernt. Langsam reiften, im Licht der Liebe, neue Verbindungen von Seele zu Seele, hinterher erst kamen die Worte. So kam eines Tages, von keinem erwartet, ein Gespräch zwischen den Freunden zustande, an einem schulfreien Tage in der Bibliothek – ein Gespräch, das sie mitten in den Kern und Sinn ihrer Freundschaft stellte und weithin neue Lichter warf.
Sie hatten über Astrologie gesprochen, welche im Kloster nicht getrieben wurde und verboten war, und Narziß hatte gesagt, Astrologie sei ein Versuch, in die vielen verschiedenen Arten von Menschen, Schicksalen und Bestimmungen Ordnung und System zu bringen. Hier setzte Goldmund ein: »Immer sprichst du von den Verschiedenheiten – ich habe allmählich erkannt, daß dies deine besonderste Eigenschaft ist. Wenn du von dem großen Unterschied sprichst, der zum Beispiel zwischen dir und mir bestehe, dann will mir scheinen, der Unterschied bestehe in nichts anderem als eben in deinem merkwürdigen Versessensein auf das Finden von Unterschieden!«
Narziß: »Gewiß, du triffst damit den Nagel auf den Kopf. In der Tat: dir sind die Unterschiede nicht sehr wichtig, mir aber scheinen sie das einzig Wichtige zu sein. Ich bin meinem Wesen nach Gelehrter, meine Bestimmung ist die Wissenschaft. Und Wissenschaft ist, um dein Wort zu zitieren, gar nichts anderes als eben das ‚Versessensein auf das Finden von Unterschieden’. Man könnte ihr Wesen gar nicht besser bezeichnen. Für uns Wissenschaftsmenschen ist nichts wichtig als das Feststellen von Verschiedenheiten, Wissenschaft heißt Unterscheidungskunst. Zum Beispiel an jedem Menschen die Merkmale finden, die ihn von den andern unterscheiden, heißt ihn erkennen.«
Goldmund: »Nun ja. Einer hat Bauernschuhe an und ist ein Bauer, ein anderer hat eine Krone auf und ist ein König. Das sind allerdings Unterschiede. Sie werden aber auch von den Kindern gesehen, ohne alle Wissenschaft.«
Narziß: »Wenn der Bauer und der König aber beide gleiche Kleider anhaben, dann kennt das Kind sie nicht mehr auseinander.«
Goldmund: »Die Wissenschaft auch nicht.«
Narziß: »Vielleicht doch. Sie ist ja nicht klüger als das Kind, das sei zugegeben, aber sie ist geduldiger, sie merkt sich nicht bloß die gröbsten Kennzeichen.«
Goldmund: »Das tut jedes kluge Kind auch. Es wird den König am Blick erkennen oder an der Haltung. Und kurz gesagt: ihr Gelehrte seid hochmütig, ihr haltet uns andere stets für dümmer. Man kann ohne alle Wissenschaft sehr klug sein.«
Narziß: »Es freut mich, daß du das einzusehen beginnst. Nun wirst du bald auch einsehen, daß ich nicht die Klugheit meine, wenn ich vom Unterschied zwischen dir und mir rede. Ich sage ja nicht: du bist klüger oder dümmer, besser oder schlechter. Ich sage nur: du bist anders.«
Goldmund: »Das ist leicht zu verstehen. Du sprichst aber nicht nur von Unterschieden der Merkmale, du sprichst oft auch von Unterschieden des Schicksals, der Bestimmung. Warum zum Beispiel solltest du eine andere Bestimmung haben als ich? Du bist wie ich ein Christ, du bist wie ich zum Klosterleben entschlossen, du bist wie ich ein Kind des guten Vaters im Himmel. Unser beider Ziel ist dasselbe: die ewige Seligkeit. Unsere Bestimmung ist dieselbe: die Rückkehr zu Gott.«
Narziß: »Sehr gut. Im Lehrbuch der Dogmatik ist freilich ein Mensch genau wie der andere, im Leben aber nicht. Mir scheint: der Lieblingsjünger des Erlösers, an dessen Brust er ruhte, und jener andere Jünger, der ihn verriet – die haben doch wohl beide nicht dieselbe Bestimmung gehabt?«
Goldmund: »Du bist ein Sophist, Narziß! Auf diesem Wege kommen wir einander nicht näher.«
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