»Fahre fort«, sagte Narziß, »du hast es versprochen und mußt es halten. Du hast nicht darüber nachzudenken, ob Gott dein Gebet hört oder ob es den Gott, den du dir vorstellen magst, überhaupt gebe. Du hast auch nicht darüber nachzudenken, ob deine Bemühungen kindisch seien. Im Vergleich mit dem, an den unsere Gebete sich wenden, ist all unser Tun kindisch. Du sollst dir diese törichten Kleinkindergedanken während der Übung ganz und gar verbieten. Du sollst dein Paternoster und dein Marienlied sprechen und sollst dich ihren Worten hingeben und dich mit ihnen erfüllen, so, wie du etwa beim Singen oder Lautespielen auch nicht irgendwelchen klugen Gedanken und Spekulationen nachjagst, sondern einen Ton und einen Fingergriff um den andern so rein und vollkommen wie möglich ausführst. Während man singt, denkt man nicht darüber nach, ob das Singen etwa nützlich sei oder nicht, sondern man singt. Ebenso sollst du beten.«
Und wieder gelang es. Wieder erlosch sein gespanntes und begieriges Ich in der weitgewölbten Ordnung, wieder zogen die ehrwürdigen Worte über ihn hinweg und durch ihn hindurch wie Sterne.
Mit großer Befriedigung sah der Abt, daß Goldmund nach dem Ablauf seiner Bußzeit und dem Empfang des Sakramentes die täglichen Übungen weiter vollzog, wochen- und monatelang.
Währenddessen rückte sein Werk voran. Aus der dicken Treppenspindel wuchs eine kleine quellende Welt von Gestaltungen, von Pflanzen, Tieren und Menschen empor, in ihrer Mitte ein Vater Noah zwischen Weinlaub und Trauben, ein Bilderbuch und Lobpreis der Schöpfung und ihrer Schönheit, frei spielend, aber von einer geheimen Ordnung und Zucht geleitet. Während all der Monate sah niemand das Werk außer Erich, der dabei Handreichung tun durfte und keinen andern Gedanken mehr hatte, als ein Künstler werden zu dürfen. An manchen Tagen durfte auch er die Werkstatt nicht betreten. An andern Tagen nahm Goldmund sich seiner an, unterwies ihn und ließ ihn probieren, froh daran, einen Gläubigen und Schüler zu haben. War das Werk fertig und geglückt, so dachte er ihn von seinem Vater loszubitten und zum ständigen Gehilfen zu erziehen. An den Figuren der Evangelisten arbeitete er an seinen besten Tagen, wenn alles im Einklang war und keine Zweifel ihn beschatteten. Am besten, so schien ihm, gelang ihm die Figur, der er die Züge des Abtes Daniel gab, er liebte sie sehr, von ihrem Gesicht strahlte Unschuld und Güte aus. Mit der Figur des Meisters Niklaus war er weniger zufrieden, obwohl Erich diese am meisten bewunderte. Diese Gestalt zeigte Zwiespalt und Trauer, sie schien voll hoher Schöpferpläne und zugleich voll verzweifelten Wissens um die Nichtigkeit des Schöpfertums, voll Trauer um eine verlorene Einheit und Unschuld.
Als der Abt Daniel fertig war, hieß er Erich die Werkstatt säubern. Er verhängte das übrige Werk mit Tüchern und stellte nur diese eine Figur ans Licht. Dann ging er zu Narziß und wartete, da dieser beschäftigt war, geduldig bis zum nächsten Tag. Dann führte er zur Mittagsstunde den Freund in seine Werkstatt und vor die Figur.
Narziß stand und schaute. Er stand und ließ sich Zeit, mit der Aufmerksamkeit und Sorgfalt des Gelehrten betrachtete er die Gestalt. Goldmund stand hinter ihm, schweigend, und suchte den Sturm in seinem Herzen zu bändigen. »Oh«, dachte er, »wenn jetzt einer von uns beiden nicht besteht, dann ist es böse. Wenn mein Werk nicht gut genug ist oder wenn er es nicht verstehen kann, dann hat alle meine Arbeit hier ihren Wert verloren. Ich hätte doch noch warten sollen.«
Die Minuten schienen ihm Stunden, er dachte an die Stunde, da Meister Niklaus seine erste Zeichnung m den Händen gehalten hatte, er preßte die heißfeuchten Hände ineinander vor Spannung.
Narziß wendete sich zu ihm um, und alsbald fühlte er sich erlöst. Er sah in des Freundes schmalem Gesicht etwas blühen, das ihm seit den Knabenjahren nicht mehr geblüht hatte: ein Lächeln, ein beinah schüchternes Lächeln in diesem Gesicht voll Geist und Willen, ein Lächeln der Liebe und Hingabe, einen Schimmer, als sei die Einsamkeit und der Stolz dieses Gesichts für einen Augenblick durchbrochen und es schiene nichts daraus hervor als ein Herz voll Liebe.
»Goldmund«, sagte Narziß ganz leise, auch jetzt die Worte wägend, »du erwartest nicht von mir, daß ich plötzlich ein Kunstkenner sein soll. Ich bin es nicht, du weißt es. Ich kann dir über deine Kunst nichts sagen, was dir nicht lächerlich wäre. Aber laß mich dir das eine sagen: beim ersten Blick habe ich in diesem Evangelisten unsern Abt Daniel erkannt, und nicht nur ihn, sondern auch alles, was er uns damals bedeutet hat: die Würde, die Güte, die Einfalt. So, wie der selige Vater Daniel vor unserer jugendlichen Ehrfurcht stand, so steht er hier wieder vor mir, und mit ihm alles, was damals uns heilig war und was uns jene Zeit unvergeßlich macht. Du hast mich mit diesem Anblick reich beschenkt, mein Freund, du hast mir nicht nur unsern Abt Daniel wiedergegeben, du hast mir, zum erstenmal, dich selbst ganz erschlossen. Ich weiß jetzt, wer du bist. Laß uns nicht mehr darüber reden, ich darf es nicht. O Goldmund, daß uns diese Stunde gekommen ist!«
Es war still in dem großen Raum. Goldmund sah, daß sein Freund im Herzen bewegt war. Eine Verlegenheit engte ihm den Atem.
»Ja«, sagte er kurz, »ich bin froh darüber. Aber es ist nun wohl Zeit, daß du zu Tische gehst.«
Zwei Jahre arbeitete Goldmund an diesem Werk, und vom zweiten Jahr an bekam er Erich ganz als Schüler zugewiesen. Im Schnitzwerk der Treppe dichtete er ein kleines Paradies, mit Wollust gestaltete er eine holde Wildnis von Bäumen, Laubwerk und Gekräute, mit Vögeln im Geäste, und die Leiber und Köpfe von Tieren tauchten überall dazwischen auf. Inmitten dieses friedlich sprossenden Urgartens stellte er einige Szenen aus dem Leben der Patriarchen dar. Selten erlitt dies fleißige Leben eine Unterbrechung. Selten kam ein Tag, an dem die Arbeit ihm unmöglich war, an dem Unrast oder Überdruß ihm sein Werk entleideten. Dann gab er dem Schüler eine Arbeit, lief oder ritt ins Land hinein, atmete im Wald den mahnenden Duft der Freiheit und des Vagantenlebens, suchte da oder dort eine Bauerntochter auf, ging auch auf die Jagd und lag Stunden im Grünen, in die Gewölbehallen der Waldwipfel starrend und in die wuchernden Wildnisse von Farnkraut und Ginster. Nie blieb er länger weg als einen Tag oder zwei. Dann ging er mit neuer Leidenschaft ans Werk, schnitzte mit Wollust die krautig wuchernden Pflanzen, holte sacht und zärtlich die Menschenköpfe aus dem Holz, schnitt einen Mund mit kräftigem Schnitt, ein Auge, einen faltigen Bart. Außer Erich kannte nur Narziß das Werk, oft kam er herüber, die Werkstatt wurde ihm zuzeiten der liebste Raum im Kloster. Mit Freude und Erstaunen sah er zu. Da kam nun zur Blüte, was sein Freund in seinem unruhigen, trotzigen und kindlichen Herzen getragen hatte, da wuchs und blühte es herauf, eine Schöpfung, eine kleine quellende Welt: ein Spiel vielleicht, aber gewiß kein schlechteres als das Spiel mit Logik, Grammatik und Theologie.
Nachdenklich sagte er einmal: »Ich lerne viel von dir, Goldmund. Ich beginne zu verstehen, was Kunst ist. Früher schien mir, sie sei, mit dem Denken und der Wissenschaft verglichen, nicht ganz ernst zu nehmen. Ich dachte etwa so: da nun einmal der Mensch eine zweifelhafte Mischung aus Geist und Materie ist, da ihm der Geist die Erkenntnis des Ewigen öffnet, die Materie aber ihn hinabzieht und ans Vergängliche fesselt, sollte er von den Sinnen weg ins Geistige streben, um sein Leben zu erhöhen und ihm Sinn zu geben. Ich gab zwar vor, die Kunst hochzuachten, aus Gewohnheit, aber eigentlich war ich hochmütig und sah auf sie herab. Jetzt erst sehe ich, wie viele Wege zur Erkenntnis es gibt und daß der Weg des Geistes nicht der einzige und vielleicht nicht der beste ist. Es ist mein Weg, gewiß; ich werde auf ihm bleiben. Aber ich sehe dich auf dem entgegengesetzten Weg, auf dem Weg durch die Sinne, das Geheimnis des Seins ebenso tief erfassen und viel lebendiger ausdrücken, als die meisten Denker es können.«
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