»Das werde ich dem König zeigen«, sagte Kallippos und hob die Rasierklinge auf. »Und du, Freundchen«, wandte er sich zu Elymos, »du kommst mit mir.«
Wieder heulte Elymos auf, kroch zu Archimedes und umklammerte bittend seine Knie. »Bitte, Herr!« flehte er. »Laß nicht zu, daß sie mich schlagen!«
Archimedes brachte sich mit einem kleinen Schritt in Sicherheit. »Laß ihn in Ruhe!« sagte er.
Kallippos funkelte ihn wütend an, aber Archimedes blinzelte nur, dann holte er tief Luft und sagte: »Wir wissen immer noch nicht, ob dieses Katapult funktioniert. Und wenn nicht, macht es auch keinen Sinn, wenn wir uns den Kopf wegen der Rasierklinge zerbrechen, ja? Und wenn wir die Tests durchführen sollen, dann brauche ich diesen Mann, um neu zu bespannen.«
Kallippos starrte ihn noch immer wütend an.
»Es ist Sache des Königs, ob er sich mit Elymos unterhalten möchte«, beharrte Archimedes.
Kallippos schnaubte, nickte aber trotzdem und stolzierte davon, die Treppe hinunter. Die Rasierklinge hielt er vorsichtig zwischen Daumen und Mittelfinger.
Elymos stieß einen langen, zittrigen Seufzer aus. Er war erleichtert, aber noch ehe er ein Wort sagen konnte, ging Marcus rasch zu ihm hinüber und versetzte ihm einen derartig heftigen Hieb an die Schläfe, daß er umfiel.
»Bei meinen Leuten«, meinte Marcus grimmig mit tiefer Stimme, »wird ein Posten, der während der Wache einschläft, üblicherweise von den Männern zu Tode geprügelt, deren Leben er gefährdet hat. Du verdienst es, daß man dich bewußtlos prügelt! Wenn das Katapult nicht funktioniert hätte, hätten wir persönlich für diesen Mistkerl geradestehen müssen!«
»Marcus!« protestierte Archimedes. »Laß ihn in Ruhe! Wir müssen das Katapult aufziehen.« Er stand auf und prüfte Strähne für Strähne die ölverschmierten Haare, um zu sehen, was davon noch zu retten war.
Als der König eine halbe Stunde später mit seinem Gefolge wieder auftauchte, war das Katapult bereits aufgezogen und Archimedes beim Stimmen.
König Hieron wirkte noch genauso vergnügt und interessiert wie zuvor, nur Eudaimon war nicht mehr dabei. Niemand machte eine Bemerkung über den abwesenden Katapultbauer, und auch über die Rasierklinge fiel kein Wort. Archimedes drillte die Sehnen fertig und prüfte, ob auf beiden Katapultarmen dieselbe Spannung lag. Dann wurde die große Maschine zum zweiten Mal aus- und aufgerichtet, die Sehnen gespannt und das Geschoß vorsichtig an seinen Platz gehievt. Jeder brachte sich außer Reichweite der immensen Arme, die sich derart weit nach hinten gebogen hatten, daß sie beinahe parallel zum Schlitten standen. Zum zweiten Mal visierte Hieron am Ladestock entlang, dann betätigte er den Auslöser.
Der »Begrüßer« gab ein tiefes Bellen von sich, das viele Laute in sich vereinte: das hohle Sirren der Sehnen, das Donnergepolter des Steines, als er den Schlitten entlang sauste, und der ohrenbetäubende Knall, mit dem die Arme gegen die Seitenplatten droschen. Man konnte das Geschoß wegen seiner hohen Geschwindigkeit nicht verfolgen, aber als die Zuschauer zur Schießscharte rannten, sahen sie den schweren, schwarzen Stein weit draußen in dem angepeilten Feld einschlagen. Lachend hieb Hieron seine Faust in die Hand. »Beim Zeus!« rief er. »Es hat die Reichweite eines nur halb so großen Gerätes!« Er machte mit der Hand eine Kreisbewegung zu den anderen hin, und wieder wurde das Katapult geladen. »Diesmal etwas näher!« befahl der König. Die Katapultspannung wurde leicht gelockert, dann kam der zweite Schuß.
»Wunderschön!« sagte der König. »Und jetzt ein bißchen nach links - etwas nach rechts - Feuer! Oh, wunderschön!«
Nachdem das Katapult ungefähr ein dutzendmal abgefeuert worden war, traten alle Zuschauer zurück und grinsten einander an. Der Hauptmann des Hexapylons strahlte dabei fast so sehr wie Archimedes. »>Begrüßer< - so habt ihr ihn getauft?« fragte er und streichelte den Auslöser der Maschine. »Bei allen Göttern, nach einem Begrüßungsgruß von diesem Helden wird sich der Feind mit Grausen davonmachen!«
»Ich denke, wir können alle bestätigen, daß dieses Katapult seinen Test überzeugend bestanden hat«, sagte Hieron zufrieden.
Archimedes leckte sich eifrig die Lippen. Jetzt gab es Geld und etwas, was für die Sicherheit seiner Familie noch viel entscheidender war: das Angebot für einen Posten als königlicher Ingenieur mit geregeltem Einkommen.
Aber Hieron sagte lediglich: »Kannst du ein noch Größeres bauen?«
»Oh!« Archimedes war überrascht, wenn auch nicht unangenehm. Der Bau des »Begrüßers« hatte ihm Spaß gemacht, aber eine Kopie davon würde selbst mit dem zusätzlichen Schraubenrad wesentlich weniger interessant sein. »Ja, selbstverständlich. Äh - wie groß denn?«
Hieron schenkte ihm ein wohlwollendes Lächeln. »Wie groß könnte deine größte Maschine werden?«
»Nun, ich, äh.« sein Blick wanderte über die Katapultplattform. »Ich meine, das hängt damit zusammen, wieweit man gehen möchte. Meiner, äh, Ansicht nach könnte man auf so einer Plattform nichts Größeres als einen Hundert-Pfünder unterbringen.«
Plötzlich trat Stille ein, dann zischte Kallippos wieder ungläubig.
»Natürlich, wenn man, äh, es auf den Erdboden stellt«, fuhr Archimedes verlegen fort, »könnte man auch ein noch Größeres bauen. Meiner Ansicht nach gäbe es, äh, erst dann Materialprobleme, wenn die Drei-Talent-Grenze überschritten wird. Man brauchte dazu eine Menge Material und außerdem - Kräne und Geräte«, er wedelte mit der Hand vage durch die Luft, »zum Laden. Und wenn es erst einmal steht, könnte man es nur sehr schwer wieder transportieren.«
»Könnte man es, wie dieses hier, zielgenau ausrichten?« fragte Hieron ruhig.
Archimedes blinzelte. »Nun - wahrscheinlich brauchte man dafür Windetrommeln. Aber mit genügend Seilen kann man alles bewegen.«
Kallippos schüttelte den Kopf. »Gnädiger Herr!« beteuerte er dem König. »Niemand hat je etwas Größeres als einen Zwei-Talenter gebaut, nicht einmal für Demetrios Poliorketes, den Städtebelagerer, oder für Ptolemaios von Ägypten.«
»Psst!« machte Hieron, der Archimedes immer noch leutselig anlächelte. »Laß mal sehen, ob ich dich richtig verstanden habe. Behauptest du tatsächlich, daß du jedes Katapult bauen kannst, egal, wie groß es ist?«
»Die ideale Mechanik kennt keine Grenzen«, sagte Archimedes. »Wenn man etwas korrekt baut, und es funktioniert nicht, dann liegt das am zu schwachen Material, das man verwendet hat, aber nicht daran, daß die Prinzipien falsch waren. Das ist dasselbe wie bei Hebeln und Rollen. Theoretisch kann man jedes Gewicht beliebiger Größe mit der kleinstmöglichen Kraft bewegen.«
»Das behauptest du!« rief Kallippos, der nun seinen Ärger und seine Entrüstung offen zeigte. »Aber ich habe noch nie jemanden ein Haus mit Hilfe von Hebeln und Rollen bewegen sehen!«
»Wenn man mir einen festen Punkt gibt, könnte ich die Erde bewegen!« erklärte Archimedes.
»Hier ist Syrakus und nicht Alexandria!« fuhr ihn Kallippos an. »Die Erde und nicht ein Wolkenkuckucksheim!«
»Egal, ein Haus könnte ich trotzdem bewegen!« erklärte ihm Archimedes trotzig. »Oder - ein Schiff.«
Jetzt strahlte Hieron übers ganze Gesicht. »Würdest du behaupten, auch das sei unmöglich zu bewerkstelligen?« fragte er seinen Oberingenieur.
Kallippos warf Archimedes und dem König einen gleich bitterbösen Blick zu und nickte.
Hieron wandte sich an Archimedes. »Dagegen behauptest du, du könntest das?«
»Ja«, antwortete Archimedes, ohne nachzudenken. »Mit genug Seilen.«
»Dann tu’s«, ordnete der König an. »Ich möchte es sehen. Liefere mir einen Beweis für die ideale Mechanik. Ich ermächtige dich hiermit, daß du dich nach Belieben jedes Schiffes, jeder königlichen Werkstatt und aller nötigen Seile bedienen kannst. Aber-Katapulte.« Er schlug auf den »Begrüßer«. »Hol dir Eudaimon zum Nachbauen, wenn er dazu fähig ist. Übrigens - er untersteht ab jetzt dir. Für heute hat er frei, aber morgen sollte er wieder in der Werkstatt sein.
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