Es war jetzt städtisches Trottoir, auf dem sie gingen, – die Hauptstraße eines internationalen Treffpunktes, das sah man wohl. Flanierende Kurgäste begegneten ihnen, junge Leute zu-meist, Kavaliere in Sportanzügen und ohne Hut, Damen, eben-falls ohne Hut und in weißen Röcken. Man hörte Russisch und Englisch sprechen. Läden mit schmucken Schaufenstern reihten sich rechts und links, und Hans Castorp, dessen Neu-gier heftig mit seiner glühenden Müdigkeit kämpfte, zwang seine Augen, zu sehen, und verweilte lange vor einem Herren-modegeschäft, um festzustellen, daß die Auslage durchaus auf der Höhe sei.
Dann kam eine Rotunde mit gedeckter Galerie, in der eine Kapelle konzertierte. Hier war das Kurhaus. Auf mehreren Ten-nisplätzen waren Partien im Gange. Langbeinige, rasierte Jüng-linge in scharf gebügelten Flanellhosen, auf Gummisohlen und mit entblößten Unterarmen spielten gebräunten und weißge-kleideten Mädchen gegenüber, die anlaufend sich in der Sonne steil emporreckten, um den kreideweißen Ball hoch aus der Luft zu schlagen. Wie Mehlstaub lag es über den gepflegten Sportfel-dern. Die Vettern setzten sich auf eine freie Bank, um dem Spiele zuzusehen und es zu kritisieren.
"Du spielst hier wohl nicht?" fragte Hans Castorp.
"Ich darf ja nicht", antwortete Joachim. "Wir müssen liegen, immer liegen … Settembrini sagt immer, wir lebten horizontal, wir seien Horizontale, sagt er, das ist so ein fauler Witz von ihm. – Es sind Gesunde, die da spielen, oder sie tun es verbote-nerweise. Übrigens spielen sie ja nicht sehr ernsthaft, – mehr des Kostüms wegen … Und was das Verbotensein betrifft, da gibt es noch mehr Verbotenes, was hier gespielt wird, Poker, verstehst du, und in dem und jenem Hotel auch petits chevaux, hei uns steht Ausweisung darauf, es soll das Allerschädlichste sein. Aber manche laufen noch nach der Abendkontrolle hinun-ter und pointieren. Der Prinz, von dem Behrens seinen Titel hat, soll es auch immer getan haben."
Hans Castorp hörte das kaum. Der Mund stand ihm offen, denn er konnte nicht recht durch die Nase atmen, ohne daß er übrigens Schnupfen gehabt hätte. Sein Herz hämmerte in fal-schem Takte zu der Musik, was er dumpf als quälend empfand. Und in diesem Gefühl von Unordnung und Widerstreit begann er einzuschlafen, als Joachim zum Heimgehen mahnte.
Sie legten den Weg fast schweigend zurück. Hans Castorp stolperte sogar ein paarmal auf der ebenen Straße und lächelte wehmütig darüber, indem er den Kopf schüttelte. Der Hinken-de fuhr sie im Lift in ihr Stockwerk. Sie trennten sich vor Nummer vierunddreißig mit einem kurzen "Auf Wiedersehen". Hans Castorp steuerte durch sein Zimmer auf den Balkon hin-aus, wo er sich, wie er ging und stand, auf den Liegestuhl fallen ließ und, ohne die einmal eingenommene Lage zu verbessern, in einen schweren, von dem raschen Schlag seines Herzens peinlich belebten Halbschlummer sank.
Natürlich, ein Frauenzimmer
Wie lange das dauerte, wußte er nicht. Als der Zeitpunkt ge-kommen war, ertönte das Gong. Aber es rief noch nicht unmit-telbar zur Mahlzeit, es mahnte nur, sich bereit zu machen, wie Hans Castorp wußte, und so blieb er noch liegen, bis das metal-lische Dröhnen zum zweitenmal anschwoll und sich entfernte. Als Joachim durch das Zimmer kam, um ihn zu holen, wollte Hans Castorp sich umziehen, aber nun erlaubte Joachim es nicht mehr. Er haßte und verachtete Unpünktlichkeit. Wie man denn vorwärtskommen wolle und gesund. werden, um Dienst machen zu können, sagte er, wenn man sogar zu schlapp sei, um die Essenszeit einzuhalten. Da hatte er natürlich recht, und Hans Castorp konnte lediglich darauf hinweisen, daß er ja nicht krank, dafür aber im höchsten Grad schläfrig sei. Er wusch sich nur rasch die Hände; dann gingen sie in den Saal hinunter, zum drittenmal.
Durch beide Eingänge strömten die Gäste herein. Auch durch die Verandatüren dort drüben, die offen standen, kamen sie, und bald saßen sie alle an den sieben Tischen, als seien sie nie davon aufgestanden. Dies war wenigstens Hans Castorps Ein-druck, – ein rein träumerischer und vernunftwidriger Eindruck natürlich, dessen sein umnebelter Kopf sich jedoch einen Au-genblick nicht erwehren konnte und an dem er sogar ein gewis-ses Gefallen fand; denn mehrmals im Laufe der Mahlzeit suchte er ihn sich zurückzurufen, und zwar mit dem Erfolge vollkom-mener Täuschung. Die muntere alte Dame redete wieder in ih-rer verwischten Sprache auf den ihr schräg gegenübersitzenden Dr. Blumenkohl ein, der ihr mit besorgter Miene zuhörte. Ihre magere Großnichte aß endlich etwas anderes als Yoghurt, näm-lich die seimige Crême d'orge, welche die Saaltöchter in Tellern serviert hatten; doch nahm sie nur wenige Löffel davon und ließ sie stehen. Die hübsche Marusja stopfte ihr Taschentüch-lein, das ein Apfelsinenparfüm ausströmte, in den Mund, um ihr Kichern zu ersticken. Miß Robinson las dieselben rundlich geschriebenen Briefe, die sie schon heute morgen gelesen hatte. Offenbar konnte sie kein Wort deutsch und wollte es auch nicht können. Joachim sagte in ritterlicher Haltung etwas auf englisch zu ihr über das Wetter, was sie einsilbig kauend beantwortete, um dann ins Schweigen zurückzukehren. Was Frau Stöhr in ih-rer schottischen Wollbluse betraf, so war sie heute vormittag untersucht worden und berichtete darüber, indem sie sich auf ungebildete Weise zierte und die Oberlippe von ihren Hasen-zähnen zurückzog. Rechts oben, so klagte sie, habe sie Geräusch, außerdem klinge es unter der linken Achsel noch sehr verkürzt, und fünf Monate, habe "der Alte" gesagt, müsse sie noch blei-ben. In ihrer Unbildung nannte sie Hofrat Behrens "den Alten". Übrigens zeigte sie sich empört darüber, daß der "Alte" heute nicht an ihrem Tische sitze. Der "Tournee" zufolge (sie meinte wohl "Turnus") sei ihr Tisch heute mittag an der Reihe, wäh-rend "der Alte" schon wieder am Nebentische links sitze – (wirklich saß Hofrat Behrens dort und faltete seine riesigen Hände vor seinem Teller). Aber freilich, dort habe ja die dicke Frau Salomon aus Amsterdam ihren Platz, die jeden Wochentag dekolletiert zum Essen komme, und daran finde "der Alte" offenbar Gefallen, obgleich sie, Frau Stöhr, es nicht begreifen könne, denn bei jeder Untersuchung sähe er ja beliebig viel von Frau Salomon. Später erzählte sie in erregtem Flüstertone, daß gestern abend in der oberen gemeinsamen Liegehalle – der nämlich, die sich auf dem Dache befinde – das Licht ausgelöscht worden sei, und zwar zu Zwecken, die Frau Stöhr als "durch-sichtig" bezeichnete. "Der Alte" habe es gemerkt und so gewet-tert, daß es in der ganzen Anstalt zu hören gewesen sei. Aber den Schuldigen habe er natürlich wieder nicht ausfindig ge-macht, während man doch nicht auf der Universität studiert zu haben brauche, um zu erraten, daß es natürlich dieser Haupt-mann Miklosich aus Bukarest gewesen sei, dem es in Damenge-sellschaft überhaupt nie dunkel genug sein könne, – ein Mensch ohne all und jede Bildung, obgleich er ein Korsett trage, und seinem Wesen nach einfach ein Raubtier, – ja, ein Raubtier, wiederholte Frau Stöhr mit erstickter Stimme, indem ihr auf Stirn und Oberlippe der Schweiß ausbrach. In welchen Bezie-hungen Frau Generalkonsul Wurmbrand aus Wien zu ihm ste-he, das wisse ja Dorf und Platz, – man könne wohl kaum noch von geheimnisvollen Beziehungen sprechen. Denn nicht genug, daß der Hauptmann zuweilen schon morgens zu der General-konsulin aufs Zimmer komme, wenn diese noch im Bett liege, worauf er dann ihrer ganzen Toilette beiwohne, sondern am vorigen Dienstag habe er das Zimmer der Wurmbrand über-haupt erst morgens um vier Uhr verlassen, – die Pflegerin des jungen Franz auf Nummer neunzehn, bei dem neulich der Pneumothorax mißglückt sei, habe ihn selbst dabei betroffen und vor Scham die gesuchte Tür verfehlt, so daß sie sich plötz-lich in dem Zimmer des Staatsanwalts Paravant aus Dortmund gesehen habe … Schließlich erging Frau Stöhr sich längere Zeit über eine "kosmische Anstalt", die sich drunten im Ort befinde, und in der sie ihr Zahnwasser kaufe, – Joachim blickte starr auf seinen Teller nieder …
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