Heinrich Spiero - Zwei Novellen

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Heinrich Spiero

Verschneite Wege Die Richter

Verschneite Wege

Die Ebene lag in bläulichem Schneelicht weithin unbegrenzt da. Die schlecht gehaltene Landstraße von der Stadt zu dem mehrere Werst entfernten Bahnhof war die einzige belebte Linie in dem ruhigen großen Bilde. Plötzlich glänzten in dem grauen Bahnhofsgebäude die elektrischen Lampen auf. Und fast, wie wenn von unsichtbarer Hand ein riesiger schwarzer Mantel herabgeworfen würde, hüllte sich die eben noch im letzten Dämmerlichte matt glänzende Fläche in ein undurchdringliches Dunkel.

Auf dem Bahnhof wurde es immer lebhafter. Die Schenktische in den Wartesälen wurden frisch besetzt, die dampfenden Teemaschinen hereingetragen, die Bauern mit ihren Weibern, die noch eben vor dem bunten Heiligenbilde über dem Altar in der weiten Vorhalle gelegen hatten, rafften Sack und Pack zusammen und gingen in ihren hohen Filzstiefeln, an denen der aufgetaute Schnee herniederrann, dem Bahnsteige zu.

Der Ausrufer erschien in den Wartesälen und meldete die Ankunft des Schnellzuges, der von Poltawa nach Rostow am Don die Station passiert.

Der Zug lief ein. Es war ein geschäftiges Hin und Her aus den warmen Wagen in die Speisesäle und wieder zurück. Es hatte längst zum Einsteigen geläutet, als verspätet auf einem andern Geleis der Schnellzug einlief, der gerade von Norden nach Süden, von Charkow nach der Krim läuft. Im selben Augenblick, wo der Zug hielt, entstieg ein junger Mann in Eile einem der Wagen erster Klasse, warf seine Gepäckstücke eines nach dem andern zwei Trägern zu und strebte, so schnell es der ihm umwallende Pelz zuließ, dem ersten Zuge zu, indem er schon von weitem winkte und rief, daß er nach Rostow mitfahren wolle. Der ungewohnte Vorgang erregte einiges Aufsehen, alle Fenster beider Züge waren voller neugieriger Gesichter, und auch auf dem Bahnsteig betrachtete sich mancher mit unverhohlenem Staunen den eiligen Reisenden.

Den schien alles wenig zu stören. Er sprang in die erste beste offene Wagentüre, ließ sich sein Gepäck nachreichen und warf den Trägern ein paar Münzen zu, während der Bahnhofsvorstand schon das Zeichen zur Abfahrt gab und der Zug sich in Bewegung setzte.

»Diese komischen Deutschen,« sagte der Beamte zu einem Kollegen, »ein Russe würde ruhig mit dem regelmäßigen Zuge von Charkow nach Rostow fahren und dieser läuft und läuft, um nur sechs Stunden früher da zu sein. Als ob daran etwas läge!«

Der junge Mann, dem der Russe die deutsche Abkunft in den wenigen Augenblicken richtig vom Antlitz gelesen hatte, suchte sich ein noch unbenutztes Abteil, in dem er mit Hilfe des Schaffners seine Habe unterbrachte. Er setzte sich behaglich auf dem Polster zurecht, steckte sich eine Zigarre an und befestigte den Taschenleuchter an dem Tischchen vor dem Fenster. Dann zog er ein Buch aus einer Handtasche und las, bis ihn ein häufigeres unwillkürliches Senken der Lider darüber belehrte, daß es allgemach spät geworden sei. Er rief nach dem Schaffner, ließ die Rückenlehnen aufklappen und sich auf dem Sitz ein Bett aufschlagen. Wenige Minuten später war er fest eingeschlafen.

Gegen zehn Uhr morgens fuhr der Zug in Rostow ein. Eine schmutzige Droschke trug den jungen Deutschen nach der Großen Gartenstraße und vor das Grand-Hotel. Er erbat und erhielt ein Zimmer, dessen Kleinheit und Unwohnlichkeit ihm unangenehm auffielen. Pförtner und Wirt bedauerten, heute kein besseres zu haben und versprachen Umquartierung für den nächsten Tag. Der Reisende ließ es gut sein und trat eine halbe Stunde später wieder auf die Straße hinaus. Erst jetzt, da die Erschöpfung der langen Fahrt ganz von ihm gewichen war, merkte er mit Erstaunen, daß hier der Winter noch nicht eingekehrt war. Weich und mild umfing ihn die Luft, obwohl man sich schon im deutschen November befand. Die Bäume trugen noch buntes Laub, auf den Bänken längs der Straße und in dem schönen Stadtgarten saßen Männer und Frauen in bunten Trachten, überall wurde Obst feilgehalten, und auf dem ganzen Bilde ruhte eine Heiterkeit, wie sie Friedrich Neugebaur in Rußland noch nicht begegnet war. Als ob man in Marseille wäre, dachte er bei sich, indes alte Bilder früherer Fahrten in ihm emporstiegen.

Die Geschäfte, die Friedrich hergeführt hatten, waren nicht so rasch zu erledigen, obwohl die Handelshäuser, die er besuchte, ihre Räume alle ganz nahe beieinander in der Großen Gartenstraße und ihren Parallelen hatten. So mußte er sich, da er abends nach dem Essen wieder auf seinem Zimmer saß, auf ein längeres, wenigstens noch zwei, drei Tage währendes Verweilen hier gefaßt machen, nicht eben ohne Seufzen. Denn nachdem die erste, fast rauschartige Stimmung verflogen war, empfand Friedrich wieder mit der öde des unwirtlichen, schlecht eingerichteten Raumes die Einsamkeit solcher Abende, wie er ihrer nun auf dieser langen Reise schon so viele erlebt hatte. Einladungen, wie sie ihm auch hier zuteil geworden waren, lehnte er ab, wo das geschäftliche Interesse die Annahme nicht unbedingt nötig machte, denn sie führten meist in recht fragliche Singspielhallen und zu ungezählten Gläsern Schnaps, wenn nicht zu lärmenden Vergnügungen niederer Art. Die Bücher aber, deren Bestand unterwegs bei deutschen Buchhändlern immer wieder ergänzt wurde, konnten allein auch nicht das Heimweh und die Einsamkeit in der Fremde überwinden.

So hatte Friedrich Neugebaur den Tagesbericht an das väterliche Handelshaus beendet und saß ziemlich trübselig vor dem alten Schreibtisch, auf dessen verschlissener grüner Tuchdecke der Brief noch lag. Friedrich spielte gedankenlos mit seinem Taschenmesser und empfand schließlich die kindliche Lust, seinen Namen in den Tisch einzuschneiden. Er hatte wirklich schon die ersten Buchstaben ziemlich kunstvoll hineingeritzt, als er sich lächelnd seines Tuns erst recht bewußt ward und das Messer wieder hinlegte. Seine Augen aber hafteten noch an der zerschnittenen Stelle. Schließlich, da seine Gedanken immer noch kein festes Ziel fanden, griff er wieder zu dem Messer, vollendete den Namen und setzte noch den Tag, 8. November 1905, darunter. Wie er den Schnörkel der Fünf auszog, fiel sein Blick auf einige Zeichen, die rechts neben den seinen standen. Ohne sich darüber klar zu werden, was ihm an diesen aufstieß, beugte er sich doch mit einem plötzlich erwachenden Interesse nach rechts hinüber. In der nächsten Sekunde entglitt das Messer seiner Hand und fiel leicht aufschlagend zu Boden.

Als ob er seinen Augen nicht traute, fuhr Friedrich zurück, freilich nur, um sogleich wieder jene Inschrift fest zu betrachten, deren Entzifferung ihm wie instinktiv längst geglückt war. Sie lautete: Georg Neugebaur, 8. November 1885.

Georg Neugebaur! Es gab sicherlich nur sehr wenige dieses Namens, noch wenigere, die jemals nach Rostow am Don gekommen waren. Wenn aber Friedrich noch hätte zweifeln können, daß er hier die Handschrift seines Vaters vor sich hatte, so belehrte ihn darüber eine noch in der Steifheit der eingeschnittenen Lettern unverkennbare Besonderheit: Sein Vater verband das letzte und das erste G seines Vornamens durch eine grade Linie zwischen den beiden Schleifen. Dieser Strich war auch hier deutlich gezogen. Es war kein Zweifel möglich, der Vater hatte vor genau zwanzig Jahren an diesem Tisch gesessen, vielleicht in gleicher Öde und mit gleichem Heimweh.

Aber schreckhaft fast fiel es Friedrich auf die Seele, daß der Vater ihm nie von dieser Stadt gesprochen, ja, daß er ihm vor der Reise auf eine Frage gesagt hatte: Von Rostow weiß ich nichts. Friedrich hatte dessen nicht sonderlich acht gehabt, denn warum sollte der Vater alle russischen Städte kennen, die der Sohn, zum erstenmal in diesem Jahre, bereiste? Nun aber fiel dem Nachsinnenden auf, daß der Vater ja nicht gesagt hatte, er wäre nie in Rostow gewesen, sondern er wisse nichts davon, was bei einiger Deutung schließlich auch heißen konnte, er wolle nichts davon wissen.

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