Die Türe zum Arbeitszimmer seines Vaters stand weit offen, und einer von Gareths Dienern kam hereingeeilt und sah ängstlich auf ihn herab.
„Mein König.“, sagte der Diener, „Ich habe ein lautes Krachen gehört. Seid Ihr unverletzt? Mylord! Ihr blutet ja!”
Gareth sah voller Hass zu dem Jungen auf. Er versuchte auf die Füße zu kommen um nach ihm zu schlagen, doch er rutschte auf irgendetwas aus und fiel zu Boden. Er war immer noch desorientiert vom letzten Zug an seiner Opiumpfeife.
„Mein König, ich werde Euch helfen!“
Der Junge griff nach Gareths Arm, der viel zu dünn war, kaum mehr als Haut und Knochen. Doch Gareth hatte immer noch Kraft, und als der Junge seinen Arm berührte, stieß er ihn weg, und schickte ihn stolpernd auf die gegenüberliegende Seite der Kammer.
„Wage es, mich noch einmal anzufassen, und ich werde dir die Hände abhacken!“ zischte Gareth. Der Junge zog sich ängstlich zurück, und während er das tat, betrat ein weiterer Diener den Raum, begleitet von einem älteren Mann, den Gareth vage kannte. Irgendwoher kannte er ihn – doch er konnte ihn nicht zuordnen.
„Mein König“, hörte er eine alte, harsche Stimme sagen. „Wir haben auf Euch den halben Tag lang in der Ratskammer gewartet. Die Ratsmitglieder können nicht länger warten. Es gibt dringende Neuigkeiten, die sie mit euch teilen müssen, bevor der Tag vorüber ist. Kommt Ihr?“
Gareth kniff die Augen zusammen, versuchte zu erkennen, wer er war. Er erinnerte sich schwach daran, dass er seinem Vater gedient hatte. Die Ratskammer… Die Sitzung… Alles schwirrte in seinem Kopf.
„Wer bist du?“, fragte Gareth.
„Mein König, ich bin Aberthol. Der vertraute Berater Eures Vaters.“, sagte er und kam näher.
Langsam erinnerte er sich. Aberthol. Der Rat. Die Sitzung. Gareths Gedanken drehten sich, sein Kopf schmerzte. Er wollte am liebsten alleine sein.
„Verlasst mich!“, fauchte er. „Ich werde kommen.“
Aberthol nickte, verließ zusammen mit dem Diener eilig die Kammer und schloss die Türe hinter sich.
Gareth kniete da, hielt den Kopf in seine Hände gestützt und versuchte zu denken, sich zu erinnern. Es war alles so viel. Stück für Stück kamen seine Erinnerungen zurück. Der Schild war zusammengebrochen; das Empire griff an; die Hälfte seines Hofes hatte ihn verlassen; seine Schwester hatte sie weggeführt; nach Silesia… Gwendolyn… Das war es. Das war es, woran er sich versucht hatte zu erinnern.
Gwendolyn. Er hasste sie mit einer Leidenschaft, die er nicht in Worte fassen konnte. Er wollte sie töten. Jetzt noch mehr als zuvor. Er musste sie töten. Alle seine Probleme kamen von ihr. Er würde einen Weg finden, sie zurückzubringen, selbst wenn er beim dem Versuch sterben sollte. Und danach würde er seine anderen Geschwister umbringen.
Bei diesem Gedanken begann Gareth, sich besser zu fühlen.
Mit größter Anstrengung gelang es ihm aufzustehen und quer durch die Kammer zu stolpern, wobei er einen Beistelltisch umwarf. Als er sich der Türe näherte, entdeckte er die Alabaster-Büste seines Vaters, eine Skulptur, die sein Vater sehr gemocht hatte. Er griff sie beim Kopf und schmetterte sie gegen die Wand. Sie zerbrach in tausend Scherben und zum ersten Mal an diesem Tag lächelte Gareth. Vielleicht würde es doch kein allzu schlechter Tag werden.
*
Gareth riss die riesigen Eichenholztüren auf und stolzierte flankiert von mehreren Dienern in die Ratskammer, was jeden der Anwesenden sofort aufspringen ließ. Alle nahmen Haltung an.
Während das Gareth normalerweise ein gewisses Gefühl der Zufriedenheit hab, war ihm das an diesem Tag mehr als egal. Er wurde vom Geist seines Vaters geplagt und war voller Zorn darüber, dass seine Schwester gegangen war. Seine Gefühle wirbelten in seinem Kopf und er wollte es an der ganzen Welt auslassen.
Gareth strauchelte in seinem Opiumrausch durch die riesige Kammer, und kam an den dutzenden von Ratsmitgliedern vorbei als er auf seinen Thron zu stolperte. Sein Hofstaat war gewachsen und heute war und heute surrte er förmlich vor hektischer Energie, da mehr und mehr Menschen aufgrund der Nachricht vom Aufbruch des halben Hofes und dem zusammengebrochenen Schild herbei strömten. Es war als ob wer auch immer noch in King’s Court verblieben war herbei strömte, um Antworten zu finden.
Und natürlich hatte Gareth keine.
Als Gareth die Elfenbeinstufen zum Thron seines Vaters hinaufstieg sah er, wie Lord Kultin, der Anführer seiner privaten Söldnertruppe, der einzige Mann, dem er an seinem Hof noch vertrauen konnte, geduldig dahinter stand und auf ihn wartete. Neben ihm standen dutzende seiner Krieger. Sie standen alle stumm mit der Hand auf dem Schwertknauf da, bereit bis zum Tode für Gareth zu kämpfen. Das war die einzige Sache, die Gareth noch Trost bereitete.
Gareth nahm auf seinem Thron platz und betrachtete den Raum. Da waren so viele Gesichter. Einige erkannte er, die meisten jedoch nicht. Er vertraute keinem von ihnen. Jeden Tag eliminierte er mehr von ihnen aus seinem Hofstaat; er hatte schon so viele in die Kerker werfen lassen und noch mehr vor den Henker. Nicht ein Tag verging, an dem er nicht zumindest eine Handvoll Männer töten ließ. Er war überzeugt davon, dass das eine gute Strategie war: es hielt die Männer auf Trab und verhinderte, dass sich ein Coup formieren konnte.
Stille legte sich über den Raum und die Männer sahen ihn erwartungsvoll an. Sie alle sahen viel zu verängstigt aus, um zu sprechen. Was genau das war, was er wollte. Nichts bereitete ihm mehr Freude als seinen Untergebenen Angst einzuflößen.
Schließlich trat Aberthol vor und räusperte sich. Das Klappern seines Stabes hallte vom Stein wider.
„Mein König.“, begann er mit seiner alten Stimme. „Wir stehen einer Zeit großer Verwirrung in King’s Court gegenüber. Ich weiß nicht, ob die Nachricht Euch bereits erreicht hat: der Schild ist zusammengebrochen; Gwendolyn hat King’s Court verlassen und Kolk, Brom, Kendrick, Atme, die Silver, die Legion und die Hälfte Eurer Armee mitgenommen, zusammen mit der Hälfte Eures Hofes. Die die hier verblieben sind, sehen zu Euch auf in der Hoffnung auf Führung, und wollen wissen, was Euer nächster Schritt sein wird. Eure Leute brauchen Antworten, Mein König.“
„Vielmehr noch“, sagte ein anderes Ratsmitglied den Gareth vage erkannte, „hat uns die Nachricht erreicht, dass der Canyon bereits überwunden worden ist. Es geht das Gerücht um, dass Andronicus mit einer Armee von einer Million Mann in die McCloud’sche Seite des Rings einmarschiert ist.“
Empörtes Keuchen war überall im Raum zu hören; dutzende von tapferen Kriegern flüsterten untereinander, überwältigt von Angst, und der Zustand der Panik griff wie ein Lauffeuer um sich.
„Das kann nicht wahr sein!“, rief einer der Krieger.
„Doch, das ist es!“, beharrte das Ratsmitglied.
„Dann besteht keine Hoffnung mehr.“, rief ein anderer Krieger. „Wenn die McClouds überrannt worden sind, dann wird sich das Empire King’s Court als nächstes vornehmen. Und wir haben nichts, womit wir sie aufhalten könnten.“
„Wir müssen die Bedingungen unserer Kapitulation diskutieren, mein König!“, drängte Aberthol Gareth.
„Kapitulation?!“, schrie ein anderer. „Wir werden niemals kapitulieren!“
„Wenn wir das nicht tun“, schrie ein anderer Krieger zurück, „dann werden sie uns zerquetschen. Wie sollen wir gegen eine Million Mann bestehen?“
Aufgebrachtes Gemurmel brach aus, als die Krieger und Ratsmitglieder miteinander ohne jegliche Form und Ordnung stritten.
Der Sprecher des Rates schlug mehrmals mit seinem eisernen Stab auf den Boden und schrie:
„RUHE!“
Langsam beruhigte sich der Raum wieder. Alle Männer wandten sich ihm zu.
„Dies ist die Entscheidung des Königs und nicht unsere.“, sagte einer der Ratsmitglieder. „Gareth ist der rechtmäßige König und es steht uns nicht zu, die Bedingungen der Kapitulation zu diskutieren – oder ob wir überhaupt kapitulieren sollten.“
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