Dieses Wissen machte sie sofort nervös. Als sie wieder auf die Dublin Road fuhr, saß der reine Gedanke ihrer Mutter zu sehen ganz oben. Es fühlte sich wie Gewicht an, das sich auf ihren Magen legte, während sie zurück in die Stadt fuhr, und versuchte an irgendetwas zu denken, womit sie den unvermeidlichen Besuch bei ihrer Mutter umgehen konnte.
Sie musste noch eine weitere Aufgabe ausführen, ehe sie sich mit weiteren Gedanken an ihre Mutter quälte. Sie sah sich die Akten an und rief die Informationen über die Autopsie ihres Vaters auf. Sie fand den Namen des Gerichtsmediziners, der den Original Bericht geschrieben hatte, und machte sich auf, ihn zu finden.
Es war ziemlich einfach. Obwohl der infrage kommende Gerichtsmediziner sich schon vor zwei Jahren zur Ruhe gesetzt hatte, war Morrill County die Art von Ort, die sich wie ein schwarzes Loch anfühlte. Es war unmöglich ihm zu entkommen. Deswegen gab es so viele bekannte Gesichter auf den Straßen. Niemand hatte darüber nachgedacht zu gehen, irgendwo anders auf der Welt hinzugehen, um zu sehen, was das Leben noch für sie bereithielt.
Sie hatte Agent Harrison in DC angerufen, um die Adresse von Jack Waggoner, dem Gerichtsmediziner, der an ihrem Vater gearbeitet hatte, zu bekommen. Sie bekam die Adresse innerhalb von Minuten und fuhr in eine weitere kleine Stadt namens Denbrough. Denbrough lag ca. 40 Meilen südlich von Belton, zwei kleine Pünktchen auf der Karte die Morrill County darstellte.
Jack Waggoner lebte in einem Haus, das neben einer großen Wiese lag. Alte ruinierte Zaunpfähle und Stacheldraht deuteten darauf hin, dass dort einst Pferde oder Rinder gewesen waren. Als sie das Auto in der Einfahrt eines wunderschönen zweistöckigen Kolonialstilhauses parkte, sah sie eine Frau, die im Blumenbeet arbeitete, das die ganze Veranda entlanglief.
Die Frau sah Mackenzie in dem Moment, als Mackenzie das Auto wendete, es parkte und ausstieg.
“Hallo”, sagte Mackenzie und wollte so schnell wie möglich mit der Frau ins Gespräch kommen, ehe das Starren sie zu irritieren begann.
“Selber Hallo”, sagte sie Frau. “Wer sind Sie?”
Mackenzie nahm ihr Abzeichen heraus und stellte sich selbst so freundlich vor, wie sie konnte. Direkt leuchteten die Augen der Frau auf und sie schaute sie nicht mehr so argwöhnisch an.
“Und was bringt das FBI nach Denbrough?”, fragte die Frau.
“Ich habe gehofft, mit Herrn Waggoner sprechen zu können”, sagte sie. “Jack Waggoner. Ist er zu Hause?”
“Ist er”, sagte die Frau. “Ich bin übrigens Bernice. Seine Frau seit 31 Jahren. Er bekommt manchmal Anrufe von der Regierung, es geht immer um tote Leute, die er in der Vergangenheit gesehen hat.”
“Ja, deswegen bin ich hier. Können Sie ihn für mich holen?”
“Ich werde Sie zu ihm bringen”, sagte Bernice. “Er steckt inmitten eines Projektes.”
Bernice führte Mackenzie ins Haus. Es war sauber und sparsam dekoriert, so sah es viel größer aus, als es in Wirklichkeit war. Die Aufmachung dieses Ortes ließ sie wieder an das riesige Feld da draußen denken, das einmal Vieh enthalten hatte – Vieh, das dabei geholfen hatte, für solch ein Haus zu zahlen.
Bernice führte sie in einen fertigen Keller. Als sie zum Ende der Stufen kamen, sah Mackenzie zuerst einen Rehkopf an der Wand. Dann, als sie um die Ecke gingen, sah sie einen ausgestopften Hund – ein echter Hund, der nach seinem Tod ausgestopft worden war. Er war in die Ecke gedrückt auf einer merkwürdigen Art von Plattform.
Ganz hinten im Keller saß ein Mann über einen Arbeitstisch gebeugt. Eine Tischlampe schien auf etwas, an dem er arbeitete, das etwas wurde von den krummen Rücken und Schultern des Mannes verdeckt.
“Jack?”, sagte Bernice. “Du hast Besuch.”
Jack Waggoner drehte sich um und sah Mackenzie mit einem Paar dicker Brillengläser an. Er nahm sie ab, blinzelte auf fast schon komische Art mit seinen Augen und stand langsam auf. Als er sich bewegte, konnte Mackenzie sehen, an was er arbeitete. Sie sah den Körper, der wie ein kleiner Luchs aussah.
Präparator dachte sie. Er konnte einfach nicht von den toten Körpern loskommen nach seiner Pensionierung, wie es scheint.
“Ich glaube nicht, dass wir uns kennen”, sagte Jack.
“Wir kennen uns nicht”, sagte sie. “Ich bin Mackenzie White vom FBI. Ich hoffte, ich kann mit Ihnen über eine Leiche sprechen, die sie vor über siebzehn Jahren seziert haben.”
Jack pfiff und zuckte die Achseln. “Also ich kann mich kaum an die Leichen erinnern, die ich während meines letzten Jahres gesehen habe und das war vor zwei Jahren. Siebzehn Jahre sind ein wenig zu viel.”
“Es war ein sehr hochkarätiger Fall”, sagte sie. Ein Polizist … ein Kriminalpolizist. Ein Mann namens Benjamin White. Er war mein Vater. Er wurde erschossen –“
“Von hinten in den Kopf geschossen”, sagte Jack. “Mit einer Beretta 92, wenn ich mich richtig erinnere.”
“Das stimmt.”
“Ja, daran erinnere ich mich. Und … naja, schön Sie kennenzulernen. Tut mir leid, das mit ihrem Vater.”
Bernice seufzte und begann zur Treppe zu gehen. Sie gab ein entschuldigendes Lächeln und winkte Mackenzie zu, als sie sich empfahl.
Jack lächelte seiner Frau nach, als sie die Treppen hochging. Als ihre Fußschritte verhallt waren, schaute Jack wieder auf die Arbeit auf seinem Tisch. “Ich würde Ihnen die Hand schütteln … aber naja ich weiß nicht, ob Sie das wollen.”
“Präparator scheint ein passendes Hobby für einen Mann mit Ihrer Arbeitsgeschichte zu sein”, sagte Mackenzie.
“Es lässt die Zeit schneller rumgehen. Und das zusätzliche Einkommen ist auch nicht schlecht. Egal … Ich schweife ab. Was kann ich für Sie tun in Ben Whites Fall?”
“Ehrlich gesagt suche ich nach etwas Außergewöhnlichem. Ich habe die Berichte des Falls mehr als fünfzig Mal gelesen, da bin ich mir sicher. Ich kenne sie in und auswendig. Aber mir ist auch bewusst, dass es oft die kleinen Einzelheiten sind, die nur von ein oder zwei Menschen bemerkt werden – Einzelheiten, die es nicht wert scheinen, seine Zeit damit zu verschwenden – sodass sie im offiziellen Bericht nicht erscheinen. Nach solchen Dingen suche ich.”
Jack nahm sich einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken, aber Mackenzie konnte schon an dem enttäuschenden Blick in seinen Augen lesen, dass ihm nichts einfiel. Nach ein paar Momenten schüttelte er seinen Kopf. “Tut mir leid. Aber in Sachen der Leiche selber gab es nichts außergewöhnlich. Offensichtlich war die Todesursache klar. Ansonsten war sein Körper in sehr guter Verfassung.”
“Warum erinnern Sie sich dann so gut daran?”
“Wegen der Natur des Falles an sich. Es war mir immer schon merkwürdig vorgekommen. Ihr Vater war ein sehr respektierter Polizist. Dann kommt jemand in das Haus und schießt ihm von hinten in den Kopf und schafft es herauszugehen, ohne dass ihn jemand sieht. Eine Beretta 92 ist nicht unbedingt laut, aber laut genug, um einen ganzen Haushalt aufzuwecken.”
“Es hat mich aufgeweckt”, sagte Mackenzie. “Mein Zimmer war direkt neben seinem. Ich habe es gehört, aber ich war mir nicht sicher, was es war. Dann hörte ich Fußschritte, jemand ist an meinem Zimmer vorbeigegangen. Meine Zimmertür war geschlossen, etwas, was ich als Kind nie gemacht habe. Ich habe sie immer einen Spalt offen gelassen. Aber jemand hat sie zugemacht. Derselbe nehme ich an, es war derjenige, der meinen Vater erschossen hat.”
“Das stimmt. Sie haben ihn gefunden, oder?”
Sie nickte. “Und das kann nicht länger als zwei oder drei Minuten nach dem Schuss gewesen sein. Ich habe so lange gebraucht, um herauszufinden, dass etwas nicht in Ordnung ist. Dann bin ich aus dem Bett gestiegen und in das Zimmer meiner Eltern gegangen, um nachzuschauen.”
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