„Ich glaube, mein Knöchel ist gebrochen", rief sie dem Mann zu. „Und ich habe mein Handy verloren."
„Das klingt übel", sagte der Mann. „Wie ist es passiert?"
Was ist das denn für eine Frage?, dachte sie.
Obwohl in seiner Stimme ein Lächeln zu liegen schien, wünschte sich Courtney, dass sie endlich sein Gesicht sehen könnte.
Sie sagte: „Ich joggte, und plötzlich war da dieses Loch, und...."
„Und was?"
Courtney war jetzt ziemlich gereizt.
Sie sagte: „Nun, offensichtlich bin ich reingefallen."
Der Mann wurde für einen Moment still. Dann sagte er: „Es ist ein großes Loch. Haben Sie es denn nicht gesehen?"
Courtney stöhnte vor Verzweiflung.
„Ich brauche einfach nur Ihre Hilfe, um hier rauszukommen, okay?"
Der Mann schüttelte den Kopf.
„Sie sollten nicht an einem unbekannten Ort joggen gehen, wenn Sie den Weg nicht kennen."
„Ich kenne diesen Weg gut!“, rief Courtney.
„Wie sind Sie dann bitte in dieses Loch gefallen?"
Courtney war sprachlos. Entweder war der Mann ein Idiot, oder aber er spielte mit ihr.
„Sind Sie der Arsch, der dieses Loch gegraben hat?“, rastete sie jetzt aus. „Wenn ja, dann ist das überhaupt nicht lustig, verdammt nochmal. Holen Sie mich hier raus!"
Sie war schockiert, als sie erkannte, dass sie weinte.
„Wie das?“, fragte der Mann.
Courtney griff nach oben und streckte ihren Arm so weit wie möglich aus.
„Hier", sagte sie. „Greifen Sie nach unten, nehmen Sie meine Hand und ziehen Sie mich hoch."
„Ich bin nicht sicher, ob ich mich so weit strecken kann."
"Sicher können Sie das."
Der Mann lachte. Es war ein angenehmes, freundliches Lachen. Trotzdem wünschte sich Courtney immer noch, sie könnte sein Gesicht sehen.
„Ich werde mich um alles kümmern", sagte er.
Er trat zurück und außer Sichtweite.
Dann hörte sie das Rasseln von Metall und von weiter Hinten ein quietschendes, mahlendes Geräusch.
Das nächste, was sie wusste, war, dass ein riesiges Gewicht auf sie niederprasselte.
Sie keuchte und spuckte, bis sie begriff, dass der Mann gerade eine Ladung Dreck auf sie geworfen hatte.
Sie fühlte, wie ihre Hände und Füße ganz kalt wurden––Zeichen der Panik, so wurde es ihr bewusst.
Nur die Ruhe, sagte sie zu sich.
Was auch immer da gerade passierte, sie musste ruhig bleiben.
Sie sah, dass der Mann mit einer Schubkarre über ihr stand. Ein paar verbliebene Schmutzklumpen fielen aus der Schubkarre auf ihren Kopf.
„Was machen Sie da?", schrie sie.
„Entspannen Sie sich", sagte der Mann. „Wie gesagt, ich kümmere mich um alles."
Er rollte die Schubkarre weg. Dann hörte sie immer wieder ein dumpfes, trommelartiges Schlagen gegen Metall.
Es war das Geräusch des Mannes, der jetzt noch mehr Dreck in die Schubkarre schaufelte.
Sie schloss die Augen, atmete tief ein, öffnete den Mund und ließ einen langen, durchdringenden Schrei ertönen.
„Hilfe!"
Dann spürte sie einen schweren Dreckklumpen, der sie direkt ins Gesicht traf. Sie verschluckte etwas Erde, musste würgen und spuckte sie wieder aus.
Seine Stimme klang immer noch freundlich, als der Mann sagte....
„Ich fürchte, Sie werden viel lauter schreien müssen."
Dann fügte er mit einem Glucksen hinzu....
„Selbst ich kann Sie ja kaum hören."
Sie ließ erneut einen Schrei erklingen und war schockiert über die Lautstärke ihrer eigenen Stimme.
Dann lud der Mann die neue Schubkarre voller Dreck auf ihr ab.
Sie konnte jetzt nicht mehr schreien. Ihre Kehle war vor lauter Dreck verstopft.
Sie wurde von einem unheimlichen Gefühl überwältigt, als ob sie ein Déjà-vu hätte. Das hier hatte sie schon vorher erlebt––diese Unfähigkeit vor Gefahr zu fliehen oder gar zu schreien.
Aber diese Erfahrungen waren nur Alpträume gewesen. Und stets war sie aus ihnen erwacht.
Sicherlich war das hier nur ein weiterer Albtraum.
Wach auf, sagte sie immer wieder zu sich. Wach auf, wach auf, wach auf!
Aber sie konnte nicht aufwachen.
Das hier war kein Traum.
Das hier war echt.
Spezialagentin Riley Paige arbeitete gerade an ihrem Schreibtisch im Gebäude der Behavioral Analysis Unit (BAU) des FBI in Quantico, als sie von einer unwillkommene Erinnerung heimgesucht wurde …
Ein Mann mit dunkler Haut starrte sie mit seinen glasigen Augen an.
Er hatte eine Schusswunde an der Schulter und eine viel gefährlichere Wunde am Bauch.
Mit schwacher, bitterer Stimme sagte er zu Riley …
„Ich befehle dir, mich zu töten."
Rileys Hand lag auf ihrer Waffe.
Sie sollte ihn töten.
Sie hatte allen Grund, ihn zu töten.
Trotzdem wusste sie nicht, was sie tun sollte....
Eine Frauenstimme riss Riley aus ihrer Träumerei.
„Du siehst aus, als hättest du etwas auf dem Herzen."
Riley blickte von ihrem Schreibtisch auf und sah eine junge afroamerikanische Frau mit kurzen glatten Haaren in ihrer Bürotür stehen.
Es war Jenn Roston, die bei Rileys letztem Fall ihre neue Partnerin gewesen war.
Riley schüttelte sich ein wenig.
„Es ist nichts", sagte sie.
Jenns dunkelbraune Augen waren voller Sorge.
Sie sagte: „Oh, ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht nichts ist."
Als Riley nicht antwortete, sagte Jenn: „Du denkst an Shane Hatcher, nicht wahr?"
Riley nickte leise. Die Erinnerungen suchten sie dieser Tage ziemlich häufig heim––all diese Erinnerungen an die grauenhafte Konfrontation mit dem verwundeten Mann in der Hütte ihres verstorbenen Vaters.
Zwischen Riley und dem entflohenen Sträfling hatte ein seltsames, verdrehten Band der Loyalität bestanden. Er war fünf Monate lang auf freiem Fuß gewesen, und sie hatte nicht einmal versucht, seine Freiheit einzuschränken––nicht bevor er begonnen hatte, unschuldige Menschen zu ermorden.
Nun war es für Riley schwer nachzuvollziehen, dass sie ihn so lange hatte frei sein lassen.
Sie hatten eine beunruhigende, illegale und sehr, sehr dunkle Beziehung geführt.
Von allen Leuten, die Riley kannte, wusste Jenn am besten, wie dunkel sie wirklich gewesen war.
Schließlich sagte Riley: „Ich denke immer noch, dass ich ihn sofort hätte töten sollen."
Jenn sagte: „Er war verwundet, Riley. Er stellte keine Bedrohung für dich dar."
„Ich weiß", sagte Riley. „Aber ich denke dennoch, dass ich vielleicht zugelassen habe, dass meine Loyalität mein Urteilsvermögen schwächt."
Jenn schüttelte den Kopf.
„Riley, wir hatten doch darüber gesprochen. Du weißt bereits, wie ich darüber denke. Du hast das Richtige getan. Und falls du mir allein nicht glauben möchtest, alle anderen hier sind ganz meiner Meinung."
Riley wusste, dass es stimmte. Ihre Kollegen und Vorgesetzten hatten ihr herzlich dazu gratuliert, dass sie Hatcher lebend gefasst hatte. Ihr Zuspruch war eine willkommene Abwechslung. Solange Riley unter Hatchers Bann gestanden hatte, war ihr gegenüber jeder hier zu Recht misstrauisch gewesen. Nun, da sich die Wolke des Misstrauens aufgelöst hatte, waren die Gesichter ihrer Kollegen wieder freundlich, und sie wurde mit neuem Respekt begrüßt.
Riley fühlte sich hier jetzt wirklich wieder zu Hause.
Dann grinste Jenn und fügte hinzu: „Verdammt nochmal, dieses eine Mal in deinem Leben hast du die Sache sogar nach Vorschrift erledigt."
Riley kicherte. Mit Sicherheit hatte sie die korrekte Vorgehensweise befolgt, als sie Hatcher festgenommen hatte––was mehr war, als sie über den Großteil ihrer Handlungen während des Falls, den sie und Jenn gerade gemeinsam gelöst hatten, sagen konnte.
Riley sagte: „Ja, ich schätze, du hast einen richtigen Crashkurs in meinen… unkonventionellen Methoden genossen."
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