"Wo können wir sitzen?", fragte Riley.
"Da oben!", sagte Jilly und zeigte auf die oberste Reihe, wo noch einige Plätze frei zu sein schienen. "Ich kann mich vor das Geländer stellen und alles sehen."
Sie gingen die Tribüne nach oben und setzten sich. Kurze Zeit später begann das Spiel. April spielte im Mittelfeld und hatte offenbar viel Spaß. Riley bemerkte sofort, dass sie eine aggressive Spielerin war.
Während sie zusahen kommentierte Jilly, "April sagt, dass sie ihre Fähigkeiten in den nächsten Jahren ausbauen will. Stimmt es, dass Fußball ihr vielleicht ein College Stipendium bringen könnte?"
"Wenn sie wirklich daran arbeitet", sagte Riley.
"Wow. Das ist so cool. Vielleicht kann ich das auch."
Riley lächelte. Es war wundervoll, dass Jilly einen so positiven Ausblick auf die Zukunft hatte. In dem Leben, das sie hinter sich gelassen hatte, war wenig Anlass zur Hoffnung gewesen. Ihre Aussichten waren düster gewesen. Sie hätte vermutlich nicht einmal die Highschool beendet, geschweige denn ein College besucht. Eine ganz neue Welt der Möglichkeiten erschloss sich ihr jetzt.
Ich nehme an, ich mache wenigstens etwas richtig, dachte Riley.
Während Riley zusah, bewegte sich April auf das Tor zu und versenkte einen wundervollen Eckschuss. Sie hatte das erste Tor des Spiels geschossen.
Riley sprang auf, jubelte und klatschte.
Dabei erkannte sie ein weiteres Mädchen im Team. Es war Aprils Freundin Crystal Hildreth. Riley hatte Crystal schon eine Weile nicht mehr gesehen. Der Anblick des Mädchens wühlte einige verworrene Emotionen auf.
Crystal und ihr Vater, Blaine, hatten direkt neben Riley und ihrer Familie gewohnt.
Blaine war ein charmanter Mann. Riley hatte Interesse an ihm gehabt und er an ihr.
Aber all das hatte vor einigen Monaten geendet, als etwas Schreckliches passiert war. Danach waren Blaine und seine Tochter weggezogen.
Riley wollte wirklich nicht an diese Ereignisse erinnert werden.
Sie sah sich in der Menge um. Da Crystal spielte, war sicherlich auch Blaine unter den Zuschauern. Aber im Moment konnte sie ihn nicht sehen.
Sie hoffte, dass sie ihn nicht treffen würde.
*
In der Halbzeit rannte Jilly los, um mit ein paar Freunden zu sprechen, die sie gesehen hatte.
Riley bemerkte, dass sie eine SMS bekommen hatte. Sie war von Shirley Redding, der Immobilienmaklerin, die sie bezüglich des Verkaufs der Hütte ihres Vaters kontaktiert hatte.
Dort stand:
Gute Nachrichten! Rufen Sie mich sofort an!
Riley verließ die Tribüne und wählte die Nummer der Maklerin.
"Ich habe mir den Verkauf angesehen", sagte die Frau. "Das Grundstück sollte mehr als hunderttausend Dollar bringen. Vielleicht sogar das Doppelte."
Riley spürte einen Anflug von Erregung. So eine Summe würde eine große Hilfe für die College Pläne der Mädchen sein.
Shirley fuhr fort, "Wir müssen über Details reden. Passt es Ihnen gerade?"
Tat es natürlich nicht, also verabredeten sie sich für den nächsten Tag. Gerade als sie den Anruf beendete, sah sie, wie sich jemand durch die Menge auf sie zubewegte.
Riley erkannte ihn sofort. Es war Blaine, ihr ehemaliger Nachbar.
Sie bemerkte, dass der gut aussehende, lächelnde Mann noch immer eine Narbe auf seiner rechten Wange hatte.
Riley wurde das Herz schwer.
Gab er Riley die Schuld für diese Narbe?
Sie konnte nicht verhindern, dass sie es tat.
Blaine Hildreth spürte eine Welle von widersprüchlichen Gefühlen, während er sich seinen Weg durch die Menge bahnte. Er hatte Riley Paige entdeckt, als sie aufstand, um ihrer Tochter zuzujubeln. Sie sah wie immer sehr lebendig und bemerkenswert aus und er war wie von selbst in der Halbzeit zu ihr gegangen. Jetzt sah sie ihn an, aber er konnte nichts aus ihrem Gesichtsausdruck lesen.
Wie fühlte sie sich, ihn zu sehen?
Und wie fühlte er sich, sie zu sehen.
Blaine konnte nicht verhindern, dass seine Gedanken zu dem traumatischen Tag vor zwei Monaten wanderten.
Er saß in seinem Wohnzimmer, als er einen fürchterlichen Lärm von nebenan hörte.
Er rannte zu Rileys Haus und fand die Haustür halb offen stehen.
Er stürmte hinein und sah, was vor sich ging.
Ein Mann griff April, Rileys Tochter, an. Der Mann hatte April auf den Boden geworfen und sie wand sich unter ihm, schlug ihn mit ihren Fäusten.
Blaine rannte auf sie zu und zog den Angreifer von April herunter. Er kämpfte mit dem Mann, versuchte ihn zu überwältigen.
Blaine war größer als der Angreifer, aber nicht stärker und nicht annährend so beweglich.
Er schlug immer wieder nach dem Mann, aber die meisten seiner Schläge verfehlten sein Ziel, während die anderen keinen Eindruck zu hinterlassen schienen.
Plötzlich hatte der Mann einen vernichtenden Schlag in seine Magengrube gelandet. Blaine war die Luft weggeblieben. Er war zusammengeklappt.
Dann hatte der Angreifer gegen sein Gesicht getreten …
… und alles um ihn herum war schwarz geworden.
Dann war Blaine im Krankenhaus aufgewacht.
Und jetzt, als er auf Riley zuging, wühlte ihn die Erinnerung ein wenig auf.
Er versuchte, sich zu fangen.
Als er Riley erreichte, wusste er nicht, was er tun sollte. Die Hände zu schütteln kam ihm ein wenig lächerlich vor. Sollte er ihr eine Umarmung geben?
Er sah, dass Rileys Gesicht vor Scham gerötet war. Sie schien auch nicht zu wissen, was sie tun sollte.
"Hi, Blaine", sagte sie.
"Hi."
Sie standen sich einen Augenblick schweigend gegenüber und lachten dann ein wenig über ihre Befangenheit.
"Unsere Mädchen spielen heute sehr gut", sagte Riley.
"Vor allem deins", sagte Blaine.
Aprils Tor früh im Spiel hatte ihn wirklich beeindruckt.
"Bist du mit jemandem hier?", fragte Riley.
"Nein. Und du?"
"Nur Jilly", sagte Riley. "Ich nehme an, du kennst sie nicht. Jilly ist … nun, das ist eine lange Geschichte."
Blaine nickte.
"Meine Tochter hat mir von Jilly erzählt", sagte er. "Sie zu adoptieren ist wirklich eine tolle Sache."
Blaine erinnerte sich an etwas, das Crystal ihm erzählt hatte. Riley versuchte sich wieder mit Ryan zu versöhnen. Blaine, fragte sich, wie das wohl lief. Ryan war zumindest nicht hier beim Spiel.
Recht schüchtern sagte Riley, "Hör zu, wir sitzen ganz oben in der Reihe. Wir haben noch Platz. Willst du den Rest des Spiels mit uns angucken?"
Blaine lächelte.
"Das würde ich gerne", sagte er.
Sie gingen zurück zur Tribüne und erklommen die Stufen nach oben. Ein dünnes, junges Mädchen lächelte, als sie Riley sah. Aber sie sah nicht glücklich aus, als sie Blaine neben ihr bemerkte.
"Jilly, das ist mein Freund, Blaine", sagte Riley.
Ohne ein Wort stand Jilly auf und schickte sich an, wegzugehen.
"Setz dich zu uns, Jilly", sagte Riley.
"Ich setze mich zu meinen Freunden", sagte Jilly, drängte sich an ihnen vorbei und ging die Stufen nach unten. "Sie können mich noch reinquetschen."
Riley sah erschüttert und fassungslos aus.
"Es tut mir leid", sagte sie zu Blaine. "Das war sehr unhöflich."
"Das ist okay", sagte Blaine.
Riley seufzte und sie setzten sich.
"Nein, das ist nicht okay", sagte sie. "Eine ganze Menge Dinge sind nicht okay. Jilly ist wütend, weil ich mit jemandem zusammensitze, der nicht Ryan ist. Er war wieder bei uns eingezogen und sie hat sich sehr an ihn gewöhnt."
Riley schüttelte den Kopf.
"Jetzt zieht Ryan wieder aus", sagte sie. "Ich hatte noch keine Möglichkeit den Mädchen davon zu erzählen", sagte sie. "Oder vielleicht hatte ich einfach noch nicht den Mut. Es wird sie beide sehr treffen."
Blaine war ein wenig erleichtert, dass Ryan nicht mehr auf der Bildfläche war. Er hatte Rileys gutaussehenden Exmann einige Male getroffen und die Arroganz des Mannes war ihm sauer aufgestoßen. Außerdem musste er zugeben, dass er gehofft hatte, Riley wäre frei für eine neue Beziehung.
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