Sophia blieb an einer weiteren Tür stehen, völlig erniedrigt. Sie hatte nicht erwartet, dass das einfach wäre, aber sie hatte erwartet, dass irgendjemand in der Stadt freundlich wäre. Sie dachte, dass sie in der Lage wäre, als Bedienstete durchzugehen, wenn sie schon nicht für eine vornehme Frau durchging.
Vielleicht war das ihr Fehler. Wenn sie versuchte sich selbst neu zu erfinden, sollte sie es dann nicht ganz machen? Vielleicht war es noch nicht zu spät. Sie konnte nicht als die Art von Dienerin durchgehen, die ihre Herrin zu einem Ball begleitete, aber als was könnte sie durchgehen? Sie könnte die Art sein, die sie schon fast gewesen war, als sie das Waisenhaus verlassen hatte. Die Art von Dienerin denen man die niedrigsten Jobs gab.
Das könnte funktionieren.
Der Bereich um den Palast war ein Ort von vornehmen Stadthäusern, aber auch von all den Dingen, die ihrer Besitzer von der Stadt erwarteten: Damenschneiderin, Juweliere, Badehäuser und vieles mehr. Alles Dinge, die Sophia sich nicht leisten konnte, aber alles Dinge, die sie vielleicht trotzdem erhalten könnte.
Sie begann mit der Damenschneiderin. Das war der schwerste Teil und vielleicht, wenn sie erst einmal das Kleid hatte, würde der Rest einfach werden. Sie betrat den Laden, in dem viel Betrieb war, keuchend, als wenn sie bald zusammenbrechen würde und hoffte auf das Beste.
“Was machst du hier?”, fragte eine staalhaarige Frau, und schaute mit einem Mund voll Nadeln hoch.
“Verzeihung …”, begann Sophie. “Meine Herrin … sie wird mich schlagen, wenn ihr Kleid noch später kommt … sie sagte … ich soll den ganzen Weg laufen.”
Sie konnte nicht als eine Bedienstete durchgehen, die ihre Herrin begleitete, aber sie konnte die Dienerin der Adligen sein, die für Botengänge in der letzten Minute losgeschickt wurde.
“Und der Name deiner Herrin?”, fragte die Damenschneiderin.
Ist das wirklich die Art von Dienerin, die Milady D’Angelica schicken würde? Vielleicht weil sie dieselbe Größe haben und sie wissen will, ob es passt?
Das Aufflackern von Sophias Talent kam unaufgefordert. Sie hatte mehr Sinn als Verstand.
“Milady D’Angelica”, sagte sie. “Verzeihen Sie, aber sie sagte, ich soll mich beeilen. Der Ball –“
“Der wird nicht vor ein oder zwei Stunden losgehen und ich bezweifle, dass deine Herrin nicht eher da sein will, ehe sie keinen großen Auftritt haben kann”, antwortete die Damenschneiderin. Ihr Ton war jetzt ein wenig schärfer, obwohl Sophia annahm, dass das nur an der Person lag, für die sie vorgab zu dienen.
Die andere Frau gab nach. “Warte hier.”
Sophia wartete, auch wenn es das Schwerste überhaupt in dem Moment war. Es gab ihr zumindest die Gelegenheit zuzuhören. Der Diener im Palast hatte recht gehabt: Menschen sprachen unterschiedlich, weit entfernt von dem ärmsten Teil der Stadt. Ihre Vokale waren mehr gerundet, die Spitze der Wörter mehr geschliffen. Eine der Frauen, die dort arbeitete, schien aus einem der Handelsstaaten zu kommen, ihr Akzent ließ ihr R rollen, als sie mit den anderen sprach.
Es dauerte nicht lange, bis die ursprüngliche Schneiderin mit einem Kostüm zurückkam und es Sophia zur Kontrolle anhielt. Es war das schönste Kleid, was Sophia je gesehen hatte. Es schimmerte Silber und blau und es schien zu glänzen, während es sich bewegte. Das Mieder war mit Silberfaden bearbeitet und sogar die Unterröcke schimmerten in Wellen, was wie eine Verschwendung aussah. Wer würde die sehen?
“Milady D’Angelica und du haben dieselbe Größe, ja?”, fragte die Schneiderin.
“Ja, Ma’am”, erwiderte Sophia. “Deswegen hat sie mich geschickt.”
“Dann hätte sie dich gleich zuerst schicken sollen, anstatt eine Liste an Maßen.”
“Ich werde es ihr ausrichten”, sagte Sophia.
Das ließ die Damenschneiderin blass vor Schreck zurückweichen, als wenn der schiere Gedanke daran schon ausreichte, um ihr einen Herzstillstand zu bescheren.
“Das ist nicht nötig. Es ist sehr nah dran, aber ich muss ein paar Sachen anpassen. Bist du sicher, dass du ihre Größe hast?”
Sophia nickte. “Bis auf den Zentimeter Ma’am. Sie gibt mir nur dass zu essen, was sie isst, sodass wir gleich bleiben.”
Das war ein ausgelassenes und dummes Detail, aber die Schneiderin schien es zu schlucken. Vielleicht war es die Art von Extravaganz, von der sie glaubte, dass eine Adlige sich dazu herablassen würde. Wie dem auch sei, sie machte die Anpassungen so schnell, dass Sophia es kaum glauben konnte, endlich übergab sie ihr ein Paket, das in gemustertem Papier eingepackt war.
„Die Rechnung geht auf Miladys Konto?“ fragte die Damenschneiderin. Es lag ein wenig Hoffnung da drin, als wenn Sophia ihr Geld übergeben würde, aber Sophia konnte nur nicken. „Natürlich, natürlich. Ich vertraue darauf, dass Milady D’Agelica zufrieden sein wird.“
“Ich bin sicher, dass sie das sein wird”, sagte Sophia. Sie rannte praktisch zur Tür.
Tatsächlich war sie sich sicher, dass die Adlige wütend sein würde, aber Sophia plante nicht, auf den Teil der Geschichte zu warten.
Sie musste noch in andere Läden gehen, um andere Pakete für ihre “Herrin”, “abzuholen.”
Bei einem Schuster holte sie Stiefel aus dem feinsten farblosesten Leder, mit geätzten Linien, die eine Szene aus dem Leben der namenslosen Göttin zeigen. In einer Parfümerie erwarb sie eine kleine Flasche, die roch, als wenn der Hersteller irgendwie die Essenz von allem Schönen in eine wunderbare Kombination zusammengefasst hatte.
“Das ist meine beste Arbeit”, sagte er. “Ich hoffe, Lady Beaufort hat Freude daran.”
Bei jedem Halt suchte sich Sophia eine neue Adelsfrau aus, der sie diente. Das war einfach praktisch: sie konnte nicht garantieren, dass Milady D’Angelica in jedem Laden der Stadt gewesen war. Bei einigen Läden nahm sie die Namen von den Gedanken des Eigentümers. Bei anderen, wenn ihr Talent nicht kam, musste sie das Gespräch aufrechterhalten, bis sie eine Vermutung hatte oder wie in einem Fall, bis sie einen Blick auf das Protokollbuch über der Ladentheke erhaschen konnte.
Je mehr sie stahl, umso einfacher schien es zu werden. Jedes vorherige Stück ihres gestohlenen Outfits, diente als eine Art Qualifikation für das Nächste, denn natürlich hätten die anderen Ladenbesitzer niemals Sachen an die falsche Person gegeben. Als sie an dem Laden ankam, wo sie Masken verkauften, presste der Ladenbesitzer ihr quasi seine Waren in die Hand, ehe sie durch die Tür war. Es war eine Halbmaske einer geschnitzten Ebenholzes Szene nach Szene der maskierten Göttin, die sich um die Gastfreundschaft bemüht und sich mit Federn an den Rändern und den Schmuckstücken um die Augen herum, hervorhob. Wahrscheinlich waren sie dazu gedacht, es so aussehen zu lassen, dass die Augen des Trägers im reflektierten Licht schienen.
Sophia fühlte ein wenig Schuldgefühl aufblitzen, als sie es nahm und es zu ihrer nicht unbeträchtlichen Menge an Päckchen an ihren Armen hinzufügte. Sie stahl von so vielen Menschen, sie nahm Dinge, an denen die Hersteller gearbeitet und wofür andere gezahlt hatten. Oder wofür sie zahlen würden oder noch nicht gezahlt hatten. Sophia hatte noch nicht ganz herausgefunden, wie die Adligen Dinge kauften, ohne richtig dafür zu bezahlen.
Es war nur ein kurzes Schuldgefühl, denn diese Damen hatten so viel im Vergleich zu den Waisen im Haus der Herrenlosen. Alleine die Juwelen auf dieser Maske hätten ihre Leben verändert.
Jetzt erst mal musste Sophia sich umziehen, sie konnte nicht so dreckig von ihrer Nacht am Fluss auf eine Party gehen. Sie lief um das Badehaus herum, wartete, bis sie einen Eingang fand, an dem Kutschen an der Tür standen und der getrennte Baderäume für die Damen anzeigte. Sie hatte keine Münzen zur Bezahlung, aber sie ging trotzdem zur Tür und ignorierte den Blick, den der große, muskuläre Eigentümer ihr zuwarf.
Читать дальше