Das war ein Risiko. Die meisten der gewöhnlichen Soldaten konnten nicht lesen. Er hoffte, dass sein Tonfall ihm keine Ohrfeige für Ungehorsam einbringen würde und versuchte sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Keine Angst zu zeigen war eine dieser ungeschriebenen Regeln. Es gab von dieser Sorte Regeln mindestens genauso viele wie es offizielle gab. Regeln die festlegten, wen man fragen musste, um besseres Essen zu bekommen. Die besagten, wer wen zu kennen hatte und vor wem man sich unabhängig vom jeweiligen Rang in Acht nehmen musste. Sie zu kennen, war wohl der einzige Weg zu überleben.
„Tja, dann machst du dich wohl besser schleunigst auf den Weg!“ brüllte der Soldat und zielte mit einem Tritt in Sartes Richtung, um ihn in Gang zu setzen. Die anderen brüllten vor lachen, als wäre es der beste Witz, den sie jemals gehört hatten.
Eine der ungeschriebenen Regel schien zu sein, dass die neuen Rekruten wie Freiwild behandelt werden durften. Seit seiner Ankunft war Sartes geschlagen, getreten und geschubst worden. Man hatte ihn laufen lassen, bis er kurz vor dem Zusammenbruch gestanden hatte und ihn auch dann weiter angetrieben. Einmal hatte man ihm so viel Ausrüstung aufgeladen, dass er kaum hatte stehen können, er hatte sie dennoch tragen müssen und schließlich Löcher ohne offenkundigen Grund graben müssen. Er hatte Geschichten von hochrangigen Männern gehört, die die neuen Rekruten sogar noch schlechter behandelten. Selbst wenn sie starben, was zählte das schon in den Augen der Armee? Sie waren da, um dem Feind in den Rachen geworfen zu werden. Alle erwarteten, dass sie starben.
Sartes hatte damit gerechnet, gleich am ersten Tag zu sterben. Am Ende jenes Tages hatte er es sich sogar gewünscht. Er hatte sich in dem zu dünnen Zelt, das man ihm zugeteilt hatte, zusammengerollt und sich zitternd gewünscht, dass die Erde ihn verschlingen würde. Der nächste Tag war sogar noch schlimmer gewesen. Ein anderer neuer Rekrut, dessen Namen Sartes nicht einmal erfahren hatte, war an jenem Tag getötet worden. Er war gefangen worden, als er versucht hatte zu fliehen und sie alle hatten seine Exekution mitansehen müssen, als hätte man ihnen so eine Lektion erteilen wollen. Die einzige Lektion, die Sartes dabei gelernt hatte, war, welch grausamer Ort die Armee für diejenigen war, die ihre Angst zeigten. Seitdem hatte Sartes versucht seine Angst zu begraben, sie keinem zu zeigen, auch wenn sie ihn allzeit während des Tages begleitete.
Er nahm jetzt einen Umweg in Kauf, wechselte immer wieder die Richtung, um an einem der Kantinenzelte vorbeizukommen, in dem am gestrigen Tag einer der Köche Hilfe beim Verfassen einer Nachricht nach Hause gebraucht hatte. Die Armee gab seinen Rekruten kaum etwas zu essen und Sartes konnte das Knurren seines Magens beim Gedanken an etwas Essbares spüren. Doch er untersagte sich von dem zu naschen, was er auf dem Weg eingesammelt hatte, bevor er in das Zelt des Kommandeurs stürzte.
„Wo bist du gewesen?“ fragte der Offizier. Sein Ton verriet, dass die Ausrede, von anderen Soldaten auf dem Weg aufgehalten worden zu sein, nicht zählte. Doch das hatte Sartes geahnt. Es war einer der Gründe gewesen bei der Kantine vorbeizuschauen.
„Ich habe auf dem Weg noch etwas abgeholt, Sir“, sagte Sartes und hielt ihm eine Apfeltorte hin, von der er gehört hatte, dass sie der Lieblingskuchen des Offiziers war. „Ich habe gewusst, dass sie heute vielleicht nicht die Möglichkeit haben würden, sie selbst abzuholen.“
Das Gebaren des Offiziers veränderte sich sofort. „Das ist sehr umsichtig Rekrut – “
„Sartes, Sir.“ Sartes wagte es nicht zu lächeln.
„Sartes. Wir könnten mehr solche Soldaten wie dich gebrauchen, die wissen wie man denkt. Doch für das nächste Mal, merke dir, dass Anordnungen Vorrang haben.“
„Ja, Sir“, sagte Sartes. „Kann ich sonst noch irgendetwas für Sie tun, Sir?“
Der Offizier winkte ihn weg. „Gerade nicht, doch ich werde mir deinen Namen merken. Abtreten.“
Sartes verließ das Zelt des Kommandeurs und fühlte sich sehr viel besser, als in dem Moment als er es betreten hatte. Er war sich nicht sicher gewesen, dass diese kleine Geste genügen würde, um ihn zu besänftigen, nachdem die Soldaten für seine Verspätung gesorgt hatten. Für den Moment hatte er die Strafe vermeiden und dafür sorgen können, dass ein Offizier seinen Namen kannte.
Es war wie auf Messers Schneide, doch die gesamte Armee erschien Sartes so. Soweit war es ihm gelungen zu überleben, weil er klug gewesen war und Strafen immer einen Schritt vorausgewesen war. Er hatte Jungen in seinem Alter gesehen, die getötet oder so arg geschlagen worden waren, dass der Tod sie später trotzdem ereilte. Trotzdem war er sich nicht sicher, wie lange er das noch durchhalten würde. An einem solchen Ort würde ein Rekrut wie er Tod und Gewalt nicht ewig fernbleiben können.
Sartes schluckte beim Gedanken an die Dinge, die schiefgehen konnten. Ein Soldat konnte zu sehr zuschlagen. Ein Offizier konnte Anstoß an einer Kleinigkeit finden und eine Strafe anordnen, die in ihrer Grausamkeit ein Exempel statuieren sollte. Jeden Moment konnte man ihn in die Schlacht schicken. Er hatte von Rekruten gehört, die als Kanonenfutter an die Front geschickt wurden, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Auch das Training konnte tödlich enden, denn die Armee hatte wenig Sinn für stumpfe Waffen und Rekruten erhielten wenig Anleitung.
Doch die größte seiner Ängste bestand darin, dass jemand herausfinden würde, dass er versucht hatte sich Rexus und den Rebellen anzuschließen. Eigentlich war das nahezu unmöglich, doch die geringste Wahrscheinlichkeit war genug, um alles andere in den Hintergrund zu drängen. Sartes hatte die Leiche des Soldaten gesehen, der beschuldigt worden war, Sympathien für die Rebellen zu hegen. Seiner eigenen Einheit war befohlen worden ihn in Stücke zu hacken, um ihre Loyalität unter Beweis zu stellen. Sartes wollte so nicht enden. Allein der Gedanke daran schlug ihm auf den Magen und verdarb ihm den Hunger.
„Du da!“ rief eine Stimme und Sartes zuckte zusammen. Es war unmöglich das Gefühl abzuschütteln, dass jemand seine Gedanken gelesen hatte. Er zwang sich zumindest so zu tun als wäre er ruhig. Sartes drehte sich herum und erblickte einen Soldaten in einer Unteroffiziersrüstung, in die Muskelabdrücke eingeprägt worden waren, und mit Pockennarben auf den Wangen, die so tief waren, dass sie wie eine fremde Landschaft aussahen. „Du bist der Bote des Hauptmanns?“
„Ich habe ihm soeben eine Nachricht überbracht, Sir“, sagte Sartes. Das war keine Lüge.
„Dann bist du gerade gut genug für mich. Lauf und finde heraus, wo meine Zinnlieferung abgeblieben ist. Wenn dir irgendjemand Ärger bereitet, sag ihnen, dass Venn dich schickt.“
Sartes salutierte eilig. „Sofort Sir.“
Er rannte los, doch hatte er nicht den ihm aufgetragenen Befehl im Sinn. Er nahm eine längere Route mit vielen Biegungen. Ein Weg, der es ihm ermöglichen würde, die Ränder des Camps auszuspähen, seine Engpässe, ein Weg, der ihm erlauben würde, Schwachstellen aufzuspüren.
Denn tot oder lebendig, Sartes würde heute einen Weg finden, um zu entkommen.
Lucious bahnte sich kochend vor Wut seinen Weg durch die Adligen im Thronsaal des Schlosses. Es ärgerte ihn, dass er sich durchdrängeln musste und sie nicht Spalier standen und sich vor ihm verbeugten. Er war sauer, weil Thanos ausgezogen war um die Rebellen von Haylon niederzuschlagen und allen Ruhm für sich zu beanspruchen. Doch vor allem war er wütend, weil sich die Dinge im Stadion anders als erwartet entwickelt hatten. Das Gör Ceres hatte ihm wieder einmal einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Vor sich konnte Lucious den König und die Königin sehen, die in eine Unterredung mit Cosmas, dem alten Narren aus der Bibliothek, vertieft waren. Lucious hatte geglaubt, dass er den letzten der alten Gelehrten nie wieder hätte sehen müssen, nachdem er sie als Kinder lächerliche Fakten über die Welt und ihre Zusammenhänge hatte auswendig lernen lassen. Aber nein, nachdem er den Brief, der Ceres’ wahren Verrat offenbart hatte, vorgelegt hatte, war ihm das Ohr des Königs sicher.
Читать дальше