„Warum konntest du das nicht?“ fragte Ceres. „Bist du die ganze Zeit hier gewesen?“
„Das bin ich“, sagte Lycine. „Das war einmal eine der Stätten meines Volkes, früher. Die anderen haben die zurückgelassen. Auch ich habe das, zumindest für eine gewisse Zeit, getan, doch in den letzten Jahren war dieser Ort eine Art Zufluchtsstätte. Und ein Ort um zu warten natürlich.“
„Zu warten?“ fraget Ceres. „Du meinst auf mich?“
Sie sah, wie ihre Mutter nickte.
„Die Menschen sprechen über das Schicksal, als wäre es ein Geschenk“, sagte Lycine, „doch es ist auch eine Art Gefängnis. Verstehe, was geschehen muss und du verlierst die Wahlmöglichkeiten, die dir bereitstehen, wenn du es nicht gekannt hättest, egal wie sehr du es dir auch wünschtest...“ Ihre Mutter schüttelte den Kopf und Ceres konnte die Traurigkeit darin sehen. „Jetzt ist nicht die Zeit, etwas zu bereuen. Meine Tochter ist hier und uns steht nur eine gewisse Zeit zur Verfügung, in der du das lernen kannst, für das du gekommen bist.“
Sie lächelte und nahm Ceres’ Hand.
„Geh mit mir ein Stück.“
***
Ceres hatte das Gefühl, dass sie und ihre Mutter schon seit Tagen die magische Insel erkundeten. Die Aussicht war atemberaubend genauso wie das Zusammensein mit ihrer Mutter. Es fühlte sich wie ein Traum an.
Auf dem Weg sprachen sie die meiste Zeit über die Kraft. Ihre Mutter versuchte sie ihr zu erklären und Ceres versuchte es zu verstehen. Das seltsame war, dass, während ihre Mutter sprach, Ceres das Gefühl hatte, dass ihre Worte ihre Kraft noch verstärkten.
Selbst jetzt, als sie liefen, fühlte Ceres die Wallungen, die wie Rauch in ihr aufstiegen, wenn ihre Mutter ihre Schulter berührte. Sie musste lernen, sie zu kontrollieren, sie war hierher gekommen, um genau das zu lernen, doch schien es verglichen mit der Möglichkeit ihre Mutter endlich kennenzulernen, so unwichtig.
„Unser Blut hat dir die Kraft verliehen“, sagte Lycine. „Die Inselbewohner haben versucht sie freizusetzen, oder?“
Ceres dachte an Eoin und an die seltsamen Übungen, die sie hatte machen müssen. „Ja.“
„Dafür dass sie nicht Menschen unseres Blutes sind, verstehen sie die Welt recht gut“, sagte ihre Mutter. „Doch gibt es Dinge, die selbst sie dir nicht zeigen können. Hast du Dinge zu Stein werden lassen? Das zählt zu meinen Gaben, ich würde also vermuten, dass auch du diese Fähigkeit besitzt.“
„Zu Stein werden lassen?“ fragte Ceres. Sie verstand nicht ganz. „Bisher habe ich Dinge in Bewegung versetzt. Ich war schneller und stärker. Und – “
Sie wollte den Satz nicht zu Ende bringen. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter schlecht von ihr dachte.
„Und deine Kraft hat getötet, wenn du in Gefahr schwebtest?“ sagte Lycine.
Ceres nickte.
„Schäme dich nicht dafür, Tochter. Ich kenne dich erst ein kleines bisschen, doch weiß ich, wozu du bestimmt worden bist. Du bist ein guter Mensch. Alles was ich mir erhofft hatte. Und was das Versteinern anbelangt...“
Sie hielten auf einer Wiese mit feinen seidenen Blütenblättern. Durch den Kontakt mit ihrer Mutter spürte sie die Kraft in sich wallen, sie fühlte sich vertraut an, doch war auch zielgerichteter, konzentrierter, gesammelter.
Stein breitete sich über der Blume aus wie Frost über einem Fenster, doch nicht nur oberflächlich. Eine Sekunde später war es getan und ihre Mutter hielt eine jener Steinblumen in der Hand, die Ceres weiter unten auf de Insel gesehen hatte.
„Hast du es gespürt?“ fragte Lycine.
Ceres nickte. „Aber wie hast du das gemacht?“
„Spüre es noch einmal.“ Sie pflückte eine weitere Blume und dieses Mal vollzog sie die Verwandlung der Blätter zu Marmor und des Stiels zu Granit unglaublich langsam. Ceres versuchte die Bewegung der Kraft in ihre nachzuvollziehen und es kam ihr so vor, als würde ihre eigene Kraft darauf antworten und es ihr gleichtun.
„Gut“, sagte Lycine. „Dein Blut weiß es. Jetzt versuch es selbst.“
Sie hielt Ceres eine Blume entgegen. Ceres griff nach ihr, konzentrierte sich die Kraft in ihr zu fassen zu bekommen und ihr die Gestalt zu geben, die sie bei ihrer Mutter gespürt hatte.
Die Blume explodierte.
„Gut“, sagte Lycine mit einem Lachen, „das hätte ich nicht erwartet.“
Ihre Reaktion war so anders als die der Mutter, mit der sie aufgewachsen war. Sie hatte Ceres für jeden noch so kleinen Fehler geschlagen. Lycine reichte ihr einfach eine neue Blume.
„Atme tief durch“, sagte sie. „Du weißt bereits, wie es sich anfühlen muss. Dringe zu dem Gefühl durch. Stell es dir vor. Lass es geschehen.“
Ceres versuchte es noch einmal und dachte an das, was sie gespürt hatte, als ihre Mutter ihre Blume verwandelt hatte. Sie nahm das Gefühl und füllte es mit ihrer Kraft so wie ihr Vater eine Form in der Schmiede mit flüssigem Eisen gefüllt hätte.
„Öffne deine Augen, Ceres“, sagte Lycine.
Ceres hatte nicht einmal bemerkt, dass sie sie geschlossen hatte bis ihre Mutter es erwähnte. Sie zwang sich die Augen zu öffnen, auch wenn sie in diesem Moment Angst hatte. Als sie die Augen schließlich geöffnet hatte, starrte sie ungläubig auf das, was sie dort vor sich sah. Sie hielt eine perfekt geformte, versteinerte Blüte, die sie mit ihrer Kraft in etwas Basaltartiges verwandelt hatte, in der Hand.
„Ich habe das getan?“ fragte Ceres. Selbst im Bewusstsein der Fähigkeiten, zu denen sie imstande war, erschien es ihr immer noch beinahe unmöglich.
„Das hast du getan“, sagte ihre Mutter und Ceres konnte den Stolz darin hören. „Jetzt müssen wir es nur noch schaffen, dass es dir auch mit geöffneten Augen gelingt.“
Das brauchte länger und wesentlich mehr Versuchsblumen. Doch Ceres fand Gefallen an der Übung. Mehr als nur das, jedes Mal wenn ihre Mutter sich über ihre Versuche freute, spürte Ceres, wie sich ein wohliges Gefühl in ihr ausbreitete. Selbst als die Minuten zu Stunden wurden, gab sie nicht auf.
„Ja“, sagte ihre Mutter schließlich, „besser geht es nicht.“
Nicht nur das; es fiel ihr leicht. Es fiel ihr leicht, nach einer Blume zu greifen und die Kräfte in ihr zu erwecken. Sie zu bündeln. Es war leicht, eine makellose steinerne Blume zu kreieren. Erst als ihre Energie langsam nachließ, merkte sie, wie müde sie war.
„Es reicht“, sagte ihre Mutter und nahm ihre Hand. „Deine Kraft zehrt Energie und Mühe. Selbst die stärksten unter uns könnten nicht mehr schaffen.“ Sie lächelte. „Doch deine Kraft weiß nun, wie es funktioniert. Sie wird erwachen, wenn dich jemand bedroht oder wenn du sie erweckst. Sie wird auch noch mehr als das tun können.“
Ceres spürte einen Funken der Kraft ihrer Mutter und sie erkannte das volle Ausmaß ihrer Kraft. Sie sah die Steingebäude und Gärten in einem neuen Licht, als Dinge die mit dieser Kraft auf eine den Menschen fremde Art und Weise geschaffen worden waren. Sie war erfüllt. Vollständig.
Ein wenig Freude schien aus dem Gesicht ihrer Mutter zu weichen. Ceres hörte sie seufzen.
„Was ist?“ fragte Ceres.
„Ich wünschte nur, wir hätten mehr Zeit füreinander“, sagte Lycine. „Ich würde dir gerne die Türme hier zeigen und dir die Geschichte meines Volkes erzählen. Ich würde gerne mehr von diesem Thanos erfahren, den du so sehr geliebt hast und dir die Gärten zeigen, deren Bäume nie ein Sonnenstrahl berührt hat.“
„Dann mach das doch“, sagte Ceres. Sie hatte das Gefühl, für immer hier bleiben zu wollen. „Zeig mir alles. Erzähl mir von der Vergangenheit. Erzähl mir von meinem Vater und was geschehen ist, als ich geboren wurde.“
Doch ihre Mutter schüttelte nur den Kopf.
„Du bist noch nicht bereit dafür. Wie ich bereits sagte, das Schicksal kann zu einem Gefängnis werden, Liebling, und dich erwartet ein größeres Schicksal als die meisten Menschen.“
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