„Du bist nun der höchste Priester von Delos. Du unterstehst mir. Verstehen wir uns?“
Der junge Mann verbeugte sich. „Ja, Erster Stein. Was kann ich für Euch tun?“
Irrien blickte sich um und versuchte seine üble Laune wieder unter Kontrolle zu bringen. Wut konnte in der richtigen Dosierung jenen Angst einflössen, die man in die Knie zu zwingen suchte, doch unkontrollierte Wut war nichts weiter als eine Schwäche. Sie bestärkte Dissens und ermutigte diejenigen, die sie als Dummheit missverstanden.
„Kümmere dich um das, so wie du dich um die erste Opferung gekümmert hast“, antwortete Irrien und deutete auf den toten Priester. „Später wirst du zu mir in die königlichen Gemächer kommen.“
Er lief zu den knienden Sklaven und erwählte unter ihnen zwei von Stephanias ehemaligen Zofen. Sie waren beinahe von ebenso großer Schönheit wie ihre verstorbene Herrin, besaßen jedoch ein weitaus angemesseneres Maß an Ehrfurcht. Er zog sie auf die Füße.
„Später“, sagte Irrien. Wie zufällig stieß er eine der beiden in Richtung des Priesters. „Ich werde mir nicht nachsagen lassen, dass ich die Götter nicht respektieren würde. Aber mir erteilt niemand irgendwelche Befehle. Nimm die hier und opfere sie. Ich nehme an, dass das ihnen gefallen wird?“
Der Priester verbeugte sich erneut tief. „Was immer Euch gefällt, Erster Stein, wird auch den Göttern gefallen.“
Das war eine gute Antwort. Sie war beinahe gut genug, Irrien wieder aufzuheitern. Seine Hand umschloss den Unterarm der zweiten Frau. Sie blickte erschrocken ins Leere, da sie offenbar erkannte, wie knapp sie dem Tod von der Schippe gesprungen war.
Die andere begann zu schreien, als sie sie zum Altar zerrten.
Irrien kümmerte sich nicht darum. Er scherte sich fast genauso wenig um die Sklavin, die er nun hinter sich her zog. Die Schwachen hatten keinerlei Bedeutung. Von Bedeutung war hingegen der Zauberer, der sich in seine Angelegenheiten eingemischt hatte. Irrien wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, und es störte ihn, dass er nicht absehen konnte, was dieser Daskalos vorhatte.
Er brauchte fast den gesamten Weg bis zu den königlichen Gemächern, um sich selbst davon zu überzeugen, dass es keine Rolle spielte. Wer würde schon verstehen können, was in dem Kopf eines solch stümperhaften Magiers vor sich ging? Es zählte nur, dass Irrien seine eigenen Pläne für das Reich hatte und soweit lief alles genau nach Plan.
Was ihm jetzt bevorstand, würde sogar alles Bisherige übertreffen, auch wenn ein Wermutstropfen dabei war. Was wollte der Zauberer mit dem Jungen? Was hatte er gemeint, als er sagte, dass er ihn in eine Waffe verwandeln würde? Allein der Gedanke daran ließ Irrien erschaudern und das war etwas, das Irrien verabscheute. Er behauptete, niemanden zu fürchten, doch dieser Daskalos...
Vor ihm hatte er mächtige Angst.
Thanos wusste, dass er besser den Horizont hätte beobachten sollen, doch er konnte nichts, als Ceres mit einer Mischung aus Stolz, Liebe und Faszination anzublicken. Sie stand am Bug ihres kleinen Bootes und hielt ihre Hand in das Wasser, während sie vom Hafen aus auf das offene Wasser zusteuerten. Die Luft um sie schwirrte noch immer während der Dunst, der sie in Unsichtbarkeit hüllte, das Licht, das durch ihn drang, zu brechen schien.
Thanos wusste, dass er sie eines Tages heiraten würde.
„Ich denke, das reicht“, sagte Thanos sanft. Er konnte die Anstrengung in ihrem Gesicht sehen. Ihre Kräfte forderten offensichtlich ihren Tribut.
„Nur... noch ein bisschen... weiter.“
Thanos legte eine Hand auf ihre Schulter. Irgendwo hinter ihm hörte er Jeva keuchen, so als würde die Frau aus dem Knochenvolk erwarten, dass ihre Kräfte ihn zurückschleudern würden. Thanos wusste, dass Ceres ihm das niemals antun würde.
„Wir sind in Sicherheit“, sagte er. „Niemand folgt uns.“
Er sah Ceres’ überraschten Blick, als diese sich erstaunt umblickend erkannte, dass sie sich bereits in tieferen Gewässern befanden. Hatte es sie so viel Konzentration gekostet, ihre Kräfte zu benutzen? Wie dem auch war, niemand war jetzt mehr hinter ihnen, nur ein leerer Ozean.
Ceres zog ihre Hand aus dem Wasser. Sie wankte leicht. Thanos fing sie auf und hielt sie aufrecht. Nach allem, was sie durchgestanden hatte, konnte er kaum glauben, dass sie noch einmal diese Kraft hatte aufbringen können. Er wollte jetzt für sie da sein. Nicht nur ab und zu sondern immer.
„Es geht mir gut“, sagte Ceres.
„Nicht nur das“, versicherte ihr Thanos. „Du bist unglaublich.“
So unglaublich wie er niemals für möglich gehalten hatte. Ceres war nicht einfach nur schön, klug und stark. Sie besaß nicht nur diese Kräfte und dachte zuerst immer an die anderen und dann an sich selbst. Es waren alle diese Dinge zusammen, und doch hatte sie auch noch etwas Besonderes, das sich diesen Beschreibungen entzog.
Sie war die Frau, die er liebte und nach allem, was in der Stadt geschehen war, war sie die einzige Frau, die er liebte. Thanos dachte darüber nach, was das bedeutete. Jetzt konnten sie endlich zusammen sein. Sie würden zusammen sein.
Sie blickt zu ihm auf und zog ihn zu sich hinab, um ihn zu küssen. Es war ein sanfter, liebevoller Augenblick voll von Zärtlichkeit. Thanos wünschte, dass dieser Moment von der gesamten Welt Besitz ergriffe und dass es nichts anderes mehr gäbe, um das sie sich kümmern mussten.
„Du hast dich für mich entschieden“, sagte Ceres und berührte sein Gesicht, als er sich wieder aufrichtete.
„Ich würde mich immer wieder für dich entscheiden“, sagte Thanos. „Ich werde jetzt immer für dich da sein.“
Diese Worte zauberten ein Lächeln auf Ceres’ Lippen. Doch konnte Thanos auch die latente Unsicherheit in ihrem Ausdruck sehen. Wie hätte es auch anders sein können und doch wünschte er sich, dass es diesen Zweifel nicht geben würde. Er hätte ihn ihr gerne ausgetrieben, sodass zwischen ihnen alles wieder gut gewesen wäre. Er wollte sie noch andere Dinge fragen, doch er wusste auch, dass er nichts überstürzen sollte.
„Ich würde mich auch immer wieder für dich entscheiden“, versicherte Ceres ihm und lehnte sich zurück. „Ich sollte mich jetzt mal mit meinem Vater und meinem Bruder kurzschließen.“
Sie trat zu Berin, der neben Sartes und Leyana stand. Eine glücklich aussehende Familie. Ein Teil von Thanos sehnte sich danach, sich zu ihnen zu gesellen, um ein Teil dieser Familie zu werden. Er wollte zu Ceres’ Leben dazugehören, und er vermutete, dass auch sie das wollte, doch Thanos wusste, dass die Dinge zwischen ihnen Zeit brauchen würden, um zu heilen.
Aus diesem Grunde blieb er, wo er war und widmete sich den übrigen Mitreisenden ihres Bootes. Für die Größe des Bootes waren es recht viele. Die drei Kampfherren, die Ceres gerettet hatte, übernahmen den Großteil der Ruderarbeit. Jetzt, da sie den Hafen hinter sich gelassen hatten, würden sie auch das kleine Segel setzen können. Akila lag auf der Seite, ein Rekrut, den Sartes befreit hatte, kümmert sich um seine Wunde.
Jeva stellte sich zu ihm.
„Du bist ein Schwachkopf, wenn du sie gehen lässt“, sagte Jeva.
„Ein Schwachkopf?“ konterte Thanos. „Ist das der Dank dafür, dass ich dir gerade das Leben gerettet habe?“
Er sah, wie die Frau aus dem Knochenvolk mit den Schultern zuckte. „Auch das war schwachsinnig. Sein Leben für ein anderes aufs Spiel zu setzen, ist dumm.“
Thanos legte seinen Kopf auf die Seite. Er würde sie wohl nie ganz verstehen können. Mit einem Blick auf Ceres gestand er sich ein, dass sich dies wohl nicht nur auf die Frau aus dem Knochenvolk beschränkte.
„Für seine Freunde setzt man auch sein Leben aufs Spiel“, sagte Thanos.
Jeva schüttelte den Kopf. „Ich hätte mein Leben nicht für dich riskiert. Wenn die Zeit gekommen ist, sich mit den Geistern der Urahnen zu vereinen, dann ist die Zeit eben gekommen. Das ist vielmehr eine Ehre.“
Читать дальше