Jeden Augenblick würde sich die Tür öffnen und die Spießgesellen über ihn herfallen.
Oliver rannte los.
Er hatte keine Ahnung, wohin ihn die Straße führen würde, aber er rannte trotzdem immer weiter, ohne sich umzudrehen. Regen und Wind schlugen ihm entgegen und machten es ihm schwer, aber dies war eine der seltenen Situationen, in der es ein Vorteil war, klein und wendig zu sein. Chris hatte bestimmt noch größere Schwierigkeiten, sich gegen den Wind voranzukämpfen. Doch Chris war nicht sein einziges Problem. Seine Freunde waren auch hinter ihm her und Oliver wusste, dass das Mädchen sehr schnell rennen konnte. Er blickte über die Schulter und sah sie hinter sich.
Oliver rannte an ein paar Geschäften vorbei und bog in eine enge Gasse ein. Er knallte gegen kleine und große Hindernisse, wie einen alten Einkaufswagen, leere Kisten und Ähnliches.
Dann bog er um eine Ecke und war einen kurzen Moment lang außer Sichtweite der Bullys. Eine gewaltige Windböe warf eine große Mülltonne um. Plötzlich hatte er eine Idee. Ohne zu zögern kletterte er in die Tonne und versteckte sich zwischen alten Folien und Essensresten.
Er wartete.
Die Beine des Mädchens erschienen auf dem Gehsteig neben der Tonne. Sie wurden langsamer und drehten sich langsam um sich selbst. Sie suchte ihn. Dann hörte er weitere Schritte. Chris und die anderen waren angekommen.
„Wo ist er?“, rief einer.
„Wie konntest du ihn verlieren?“, fragte Chris.
„Ich hatte ihn die ganze Zeit im Blick und auf einmal war er weg!“, rief das Mädchen.
Oliver rührte sich nicht. Sein Herz klopfte wild und seine Beine zitterten vor Erschöpfung.
„Er hat einen seiner Tricks angewendet“, sagte Chris.
Oliver zog in der stinkigen, dunklen Tonne die Augenbrauen hoch. Wovon redete er?
„Meinst du, er hat sich selbst verschwinden lassen? Das ist sowas von gruselig!“
„Ich habe euch doch gesagt, dass er ein Freak ist!“, sagte Chris.
„Vielleicht ist er von Satan besessen oder so“, sagte einer der anderen Jungen.
„So ein Quatsch. Der ist einfach nur verrückt“, entgegnete Chris.
„Ich glaube, du hast recht“, sagte das Mädchen. Ihre Stimme wurde leiser, als würde sie sich entfernen.
Oliver konnte die Beine nicht mehr sehen. Gaben sie etwa auf?
Oliver lauschte gebannt. Ihre Stimmen wurden tatsächlich immer leiser. Aber selbst, als sie schon längst verklungen waren, harrte Oliver noch eine Weile in seinem Versteck aus. Bald wurde der Regen noch stärker und prasselte laut auf die Metalltonne. Erst jetzt traute er sich aus seinem Versteck. Selbst wenn Chris ihn unbedingt verprügeln wollte, würde er dafür nicht ewig im strömenden Regen stehen und seine Spießgesellen auch nicht.
Langsam begann er, aus der Tonne zu kriechen, als plötzlich ein starker Windstoß die Tonne erfasste und sie ins Rollen brachte.
Oliver versuchte sich festzuhalten, doch er wurde erbarmungslos herumgeschleudert und verlor schnell Halt und Orientierung. Panik und Übelkeit machten sich in ihm breit. Er hoffte, dass der Wind nachließ und die Tonne zum Stehen kam, doch es war vergeblich.
Sein Kopf schlug mit einem lauten Knall gegen das Metall. Sterne leuchteten vor seinen Augen auf. Dann wurde alles schwarz.
*
Oliver öffnete die Augen. Noch immer befand er sich in seinem Gefängnis aus Metall. Doch jetzt bewegte sich die Tonne nicht mehr. Oliver hörte immer noch den Sturm toben. Orientierungslos blinzelte er und fasste sich an en schmerzenden Kopf. Eine stinkende Pfütze von Dreck und verrottenden Essensresten ließ ihn würgen. Wie lange er wohl schon hier lag?
Schnell kroch er aus der Tonne heraus. Der Himmel war noch immer dunkel und der Regen fiel in dicken Bahnen. Frierend wurde er aufs Neue von Kopf bis Fuß durchweicht. Wenigstens wusch der Regen ihn wieder sauber. Er rieb sich die Arme und sah sich zitternd um. Oliver hatte nicht die geringste Ahnung, wo er war.
Als aus dem dichten Regenschleier plötzlich ein riesiges Gebäude auftauchte, begriff er, wohin die Tonne ihn gebracht hatte. Er war bei der Fabrik! Doch diesmal brannte darin Licht. Olivers Kinnlade klappte auf. Sah er es wirklich, oder hatte er eine Halluzination?
Der Regen peitschte weiterhin auf Oliver hinab. Er starrte die beleuchteten Fenster der Fabrik an. Sie schienen ihn magisch anzuziehen.
Er ging auf die Fabrik zu. Jeder Schritt patschte auf dem Asphalt. Schnell schlug er sich zwischen Brennnesseln und Efeu an dem Gebäude entlang, bis er auf die andere Seite gelangte. Bald hatte er die Tür erreicht, die wie am Vortag einen Spalt breit geöffnet war. Schnell zwängte er sich hindurch und befand sich wieder in der finsteren Halle.
Oliver atmete auf, erleichtert endlich im Trockenen zu sein. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnte hatten, sah er, dass alles aussah wie bei seinem letzten Besuch. Die alten, mit Spinnweben behangenen Maschinen staubten vor sich hin.
Doch etwas war anders…
Auf dem Boden bemerkte Oliver eine dünne gelbe Linie. Aber es war keine Farbe, sondern Licht. Als er die Quelle des Lichtstrahls geortet hatte, lief er schnell darauf zu. Er führte ihn direkt zu einer Wand aus Backstein.
Wie seltsam, dachte Oliver und legte seine Finger an die Wand. Licht kann doch nicht durch die Wand hindurch scheinen.
Es musste irgendwo einen Spalt geben. Er tastete die Wand ab, bis er etwas fühlte. War das ein Griff? Hoffnungsvoll drückte er darauf. Erstaunt sprang er zurück, als sich die Wand mit einem gewaltigen Knarren in Bewegung setzte.
Der Boden bebte und Oliver begann zu wanken. Er konnte sich nur mit Mühe auf den Füßen halten. Drehte er sich? Nein, die ganze Wand drehte sich! Sie musste auf einer Drehscheibe gebaut sein! Schon ergoss sich goldenes Licht über den Jungen.
In der gleißenden Helligkeit blinzelte er. Seine Beine zitterten, als die Scheibe so plötzlich zum Stehen kam, wie sie sich in Bewegung gesetzt hatte.
Klickend rastete die Wand in ihrer neuen Position ein.
Erstaunt sah Oliver sich um. Er befand sich jetzt in einem verborgenen Flügel der Fabrik. Überall standen fantastische, wirklich unglaubliche Geräte! Diese Erfindungen waren keine verstaubten und verrosteten Relikte, sondern glänzende, gigantische Neuschöpfungen.
Staunend ging er auf die nächstbeste Maschine zu. Ein beweglicher Arm schwang direkt über seinen Kopf hinweg. Er duckte sich in letzter Sekunde und sah, wie die Hand am Ende des Arms ein gekochtes Ei in einen Korb legte. Direkt daneben stand ein Gerät, dessen Hände über die Tasten eines Klaviers flogen und eine zauberhafte Melodie spielten, während ein Metronom den Takt dazu schlug.
Er war so bezaubert von diesen Erfindungen, dass Oliver das topfförmige Gebilde, das er am Vortag in der Dunkelheit gesehen hatte, gar nicht bemerkte. Ebenso wenig bemerkte er den alten Mann, der daran arbeitete. Erst als ein Kuckuck lärmend über seinen Kopf flog, erschrak er und stolperte rückwärts gegen ihn.
Oliver wirbelte herum. Er erkannte das Gesicht sofort. Auch wenn er einige Jahre älter geworden war, hätte er den Mann aus seinem Buch immer und überall erkannt.
Vor ihm stand Armando Illstrom.
Oliver schnappte nach Luft. Er konnte es nicht fassen! Sein großes Vorbild stand lebendig und kerngesund vor ihm!
„Aha“, sagte Armando lächelnd. „Ich habe mich schon gefragt, wann du mich finden würdest.“
Ungläubig rieb sich Oliver die Augen. Ganz anders als die düstere, verstaubte, verlassene Fabrik jenseits der Mauer, war diese Seite der Fabrik warm, hell und sauber. Das lebhafte Vibrieren von fleißig arbeitenden Maschinen lag in der Luft.
„Du bist ja völlig durchnässt. Ist dir kalt?“, fragte Armando.
Oliver sah ihn mit großen Augen an. Er konnte immer noch nicht fassen, dass er sein großes Vorbild wirklich gefunden hatte. Er brachte kein Wort heraus.
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