1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Schließlich fuhren sie an einer Haltestelle vorbei, deren Schild verrostet und verblichen war. Schnell stellte Oliver fest, dass er hier richtig war. Er rannte nach vorne zum Fahrer.
„Kann ich bitte hier aussteigen?“, fragte er.
Der Fahrer sah ihn mit müden, roten Augen an. „Drück auf Stopp.“
„Meinen Sie, ich soll…“
„Wenn du aussteigen willst, musst du den Knopf drücken“, wiederholte er.
Seufzend drückte Oliver auf die rote Taste und eine Glocke ertönte. Mit erhobenen Augenbrauen sah er den Fahrer an. „Kann ich jetzt aussteigen?“
„An der nächsten Haltestelle.“
Oliver war frustriert. „Ich muss aber hier aussteigen!“
„Dann hättest du früher drücken sollen.“
Verärgert ballte Oliver die Fäuste. Dann merkte er, wie der Bus langsamer wurde und neben einem Schild hielt, dass nur noch ein rostiges Rechteck war. Quietschend öffneten sich die Türen.
„Vielen Dank auch“, murmelte Oliver und stieg rasch aus. Auch aus der Nähe konnte er nicht lesen, was einst auf dem Schild gestanden hatte. Nur die Spitzen einiger Buchstaben ließen erahnen, dass die Schrift sehr altmodisch war.
Der Bus verschwand in einer Wolke aus Abgas. Sofort wurde Oliver bewusst, wie einsam und verlassen er jetzt war. Doch sowie er sich umdrehte, erschien ein sehr vertraut aussehendes Gebäude vor ihm. Es war das Gebäude aus seinem Buch! Er hatte Armando Illstroms Fabrik gefunden! Er hätte sie überall erkannt. Die Bushaltestelle musste damals, zur Blütezeit der Fabrik, den Arbeitern gedient haben. Jetzt war Oliver dankbar, dass der Busfahrer sich so stur gezeigt und ihn an genau der richtigen Stelle abgesetzt hatte.
Nur dass das Gebäude um einiges verfallener war, als Oliver gedacht hätte. In der langgezogenen Gebäudefront waren mehrere Fenster eingeschlagen. Es brannte kein einziges Licht und Oliver hatte nicht den Eindruck, dass sich irgendjemand dort aufhielt.
Was, wenn Armando doch bereits gestorben war? Ein Erfinder, der zur Zeit des Zweiten Weltkrieges gearbeitet hatte, musste inzwischen wahnsinnig alt sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass er nicht mehr am Leben war, war nicht gerade gering. Was würde Oliver machen, wenn er ihn nicht antreffen würde?
Ein Anflug von Verzweiflung wallte in ihm auf, als er auf das marode, alte Gebäude zuging. Aus der Nähe sah er, dass sämtliche Fenster im Erdgeschoss mit Brettern vernagelt waren. Eine riesige Eisentür, die einst der Haupteingang war, war mit einem dicken Schloss gesichert. Wie sollte er jetzt hineingelangen?
Langsam ging er an der Außenwand entlang, wobei er sich durch einen Dschungel von Brennnesseln und Efeu schlagen musste. An einem Fenster entdeckte er einen Spalt zwischen den Brettern. Er blickte hinein, aber es war zu dunkel um etwas zu erkennen. Immer weiter ging er, bis er an der Rückseite der Fabrik angekommen war. Dort befand sich ein weiterer Eingang. Anders als der Haupteingang, war dieser Hintereingang nicht abgesperrt. Im Gegenteil, sie stand sogar einen Spalt offen.
Mit klopfendem Herzen schob er sie weiter auf. Sie ließ sich nur langsam und schwerfällig bewegen. Dabei knarrte das verrostete Metall laut. Das war kein gutes Zeichen, dachte Oliver enttäuscht. Wenn man sie auch nur hin und wieder benutzte, dürfte sie nicht so eingerostet sein.
Dennoch drückte sich Oliver durch den Spalt hinein und fand sich auf einmal mitten in der Fabrik wieder. Seine Schritte hallten, es war pechschwarz und Olivers Augen brauchten ein paar Augenblicke, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Er schien jedoch auf einmal viel intensiver hören und riechen zu können, was das fehlende Augenlicht kompensierte. Es roch nach Staub und Metall, wie es für verlassene Häuser typisch war.
Mit angehaltenem Atem wartete er darauf, endlich besser sehen zu können. Langsam tastete er sich voran. Bald konnte er ein großes Gerät aus Holz und Metall ausmachen, das ihn an einen überdimensionalen Kochtopf erinnerte.
Er berührte die Seite und der Topf begann in seiner Metallfassung zu schwingen wie ein Pendel. Gleichzeitig drehte es sich. Oliver vermutete, dass es etwas mit der Kartierung des Sonnensystems und der Platzierung der einzelnen Planeten zu tun haben könnte, die um verschiedene Achsen rotierten. Was genau der Zweck dieses Geräts war, war ihm jedoch schleierhaft. Er ging weiter und fand bald das nächste merkwürdige Objekt. Es bestand aus einer Reihe von Metallstreben mit einer Art mechanischem Arm und einem Greifer in Form einer Hand. Oliver drehte an einem schweren Rad und der Arm begann, sich zu bewegen.
Sieht aus wie ein Arcade-Spiel, dachte Oliver.
Es bewegte sich wie einer dieser mechanischen Arme bei den Geräten, mit denen Kinder für eine Münze versuchen konnten, ein Spielzeug aus einem Glaskasten zu fischen. Nur dass dieses Gerät viel größer und bestimmt auch stärker war.
Oliver berührte die Finger der Greifhand. Sie hatten die gleiche Anzahl an Gelenken wie eine echte Hand und jedes Gelenk war erstaunlich beweglich. Oliver fragte sich, ob Armando Illstrom versucht hatte, einen Roboter zu bauen. Er hatte viel darüber gelesen; Roboter mit menschlichen Gliedmaßen, die dazu konzipiert wurden, bestimmte Bewegungen auszuführen, wie tippen oder stapeln.
Oliver ging weiter. Überall fand er großartige Maschinen, die still standen wie erstarrte Riesen. Die meisten waren aus Holz und Metall und bestanden aus vielen kleinen Einzelteilen wie Zahnräder, Drahtseile, Hebel und Flaschenzüge. Alles war mit Spinnweben und Staub überzogen. Oliver versuchte ein paar davon in Gang zu setzen und scheuchte dabei mehrere Insekten auf, die sich in den Nischen und Kanten der Maschinen eingenistet hatten.
Doch seine Begeisterung schwand, als Oliver bewusst wurde, dass die gesamte Fabrik tatsächlich verlassen und halb verfallen war. Der Staubschicht nach zu schließen war seit Jahrzehnten keiner mehr hier gewesen.
Mit zunehmendem Unbehagen eilte Oliver durch die ganze Fabrik und warf in jeden Raum einen kurzen Blick. Nichts deutete darauf hin, dass außer ihm noch jemand in dem riesigen Gebäude war. Hoffnungslos stand er in einer finsteren Lagerhalle, umgeben von den Hinterlassenschaften eines Mannes, den er zwar verehrte, aber niemals treffen würde. Dabei brauchte er Armando Illstrom so sehr. Er brauchte einen Retter, der ihm aus seiner Verzweiflung holen würde.
Aber das war nur ein Traum.
Und dieser Traum war gerade geplatzt.
*
Die gesamte Rückfahrt über rang Oliver mit seiner Enttäuschung. Er war sogar zu deprimiert um in seinem Buch zu lesen.
Als er an der richtigen Haltestelle angekommen war, stieg er auf die regennasse Straße. Schnell hatte der Regen ihn durchweicht, doch Oliver fühlte sich so niedergeschlagen, dass er es kaum wahrnahm.
Zu Hause angekommen fiel ihm wieder ein, dass er noch keinen eigenen Schlüssel zu seinem neuen Zuhause bekommen hatte. Er hatte keine andere Wahl als anzuklopfen und sich auf das gefasst zu machen, was ihn dort erwartete.
Die Tür wurde fast sofort geöffnet und Chris stand mit einem dämonischen Grinsen vor ihm.
„Du kommst zu spät zum Essen“, sagte er schadenfroh. „Mom und Dad sind fast ausgeflippt.“
Hinter Chris ertönte die schrille Stimmer seiner Mutter: „Ist er das? Ist das Oliver?“
„Ja! Und er sieht aus wie eine nasse Ratte!“, rief Chris zurück.
Oliver konnte ihm ansehen, dass er sich auf die Standpauke freute, die er von seinen Eltern bekommen würde. Er drückte sich an Chris vorbei und hinterließ kleine Pfützen im Gang.
Mom kam ihm entgegen und starrte ihn an, Oliver konnte nicht sagen, ob Wut oder Erleichterung in ihrem Blick zu lesen war.
„Hi Mom“, sagte er schwach.
„Wo hast du gesteckt? Sieh dich nur an!“
Falls sie wirklich erleichtert war, ihn zu Hause zu haben, dann konnte sie das gut verbergen. Jedenfalls nahm sie ihn nicht in den Arm. Das tat sie eigentlich nie.
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