Dieses Trainingsgelände war den Männern ihres Vaters vorbehalten; Frauen und Jungen, die noch keine 18 waren, waren hier nicht willkommen – genauso wie alle, die nicht eingeladen waren. Braxton und Brandon warteten jeden Tag ungeduldig auf ihre Einladung, doch Kyra vermutete, dass sie nie eine bekommen würden. Fighter’s Gate, so hieß die Trainingsanlage, war etwas für ehrenhafte schlachterprobte Krieger, nicht für Aufschneider wie ihre Brüder.
Kyra rannte durch die Felder, und fühlte sich glücklicher und lebendiger als an jedem anderen Ort. Die Energie war intensiv, da Dutzende der besten Krieger ihres Vaters umherritten; jeder von ihnen trug ein leicht andere Rüstungen, Krieger aus allen Regionen Escalons, die alle mit der Zeit zum Fort ihres Vaters gekommen waren. Da waren Männer aus dem Süden, aus Thebus und Leptis; aus den Midlands, meist aus der Hauptstadt, Andros, doch manche auch aus den Bergen von Kos; Leute aus dem Westen aus Ur; Flussmänner aus Thusis und ihre Nachbarn aus Ephesus. Da waren Männer, die am Ufer des Ire-Sees gelebt hatten und Männer, die sogar von den Wasserfällen bei Everfall angereist waren. Alle trugen unterschiedliche Farben, Rüstungen, Waffen. Alle waren sie Männer aus Escalon, doch jeder von ihnen vertrat seine eigene Festung – es war eine unglaubliche Vielfalt an Macht.
Ihr Vater, der Recke des ehemaligen Königs, ein Mann, der großen Respekt verlangte, war der einzige Mann in diesen Zeiten, in diesem zerbrochenen Königreich, um den sich die Männer sammeln konnten. Als der alte König das Königreich kampflos aufgegeben hatte, war es ihr Vater gewesen, den die Menschen gedrängt hatten, den Thron zu besteigen und den Kampf zu führen. Mit der Zeit waren die besten Krieger des Reiches zu ihm gekommen, und nun, wo seine Macht von Tag zu Tag wuchs, erreichte Volis eine Stärke, die es beinahe mit der Hauptstadt aufnehmen konnte. Vielleicht war das der Grund, warum die Männer des Lords sie nur zu gerne demütigten.
Nirgendwo sonst in Escalon ließen die Lord Regenten von Pandesia es nicht zu, dass die Ritter sich versammelten, aus Angst vor einem Aufstand. Doch hier, in Volis, war es anders. Hier hatten sie keine andere Wahl: sie brauchten die besten Männer, um die Flammen zu schützen.
Kyra drehte sich um und ließ den Blick schweifen, über die Mauern und die weißen Hügel hinweg. In der Ferne, selbst durch den dichten Schnee, konnte sie das sanfte Leuchten der Flammen sehen. Die Wand aus Feuer, die die östliche Grenze von Escalon beschützte, die Flammen, war gut 15 Meter breit und gut 100 Meter hoch, und brannte so hell wie immer. Über eine Strecke von fast 50 Meilen erstreckte sie sich und war das einzige, was zwischen Escalon und dem Volk der wilden Trolle im Osten stand.
Und trotzdem gelang es jedes Jahr genug Trollen, sie zu überwinden, und Chaos und Zerstörung zu verbreiten, und wenn die Hüter nicht wären, die tapferen Männer ihres Vaters, die die Flammen warteten, wäre Escalon schon lange von den Trollen unterworfen worden. Die Trolle, die sich vor dem Wasser fürchteten, konnten Escalon nur zu Land angreifen, und die Flammen waren das einzige, was sie zurückhielt. Die Hüter standen Wache und Patrouillierten – kurz, Pandesia brauchte sie. Auch andere waren an den Flammen stationiert - Wehrpflichtige, Sklaven und Verbrecher – doch die Männer ihres Vaters, die Hüter, waren die einzigen wirklichen Krieger hier und die einzigen die wussten, wie man die Flammen wartete.
Im Gegenzug erlaubte Pandesia Volis und den Männern dort viele kleine Freiheiten, wie dieses Trainingsgelände hier und echte Waffen – ein kleiner Geschmack der Freiheit, der ihnen immer noch das Gefühl gab, echte Krieger zu sein, selbst wenn es nur eine Illusion war. Sie waren nicht frei, und alles wussten es. Sie lebten in einer heiklen Balance zwischen Freiheit und Dienst, die keiner von ihnen ertragen konnte.
Doch zumindest hier, in Fighter’s Gate, waren diese Männer frei wie sie es einst gewesen waren, Krieger, die sich messen und trainieren und ihre Fähigkeiten verbessern konnten. Sie repräsentierten die Besten der Besten von Escalon, besser Krieger als Pandesia sie zu bieten hatte, und alle waren Veteranen, was die Flammen anging. Sie leisteten Schichten dort, etwa einen Tagesritt von hier entfernt. Kyra wollte so gerne eine von ihnen werden, sich beweisen, an den Flammen stationiert werden, um gegen echte Trolle zu kämpfen, wenn sie es hindurch schafften, und helfen das Königreich vor einer Invasion zu schützen.
Natürlich wusste sie, dass man ihr das niemals erlauben würde. Sie war zu jung – und sie war ein Mädchen. Es gab keine Frauen unter den Hütern, und selbst wenn es sie gäbe, würde es ihr Vater nie erlauben. Seine Männer hatte es amüsiert, als sie vor Jahren anfing, sie zu besuchen, sie hatten sich über die kleine Zuschauerin gefreut. Doch nachdem die Männer gegangen waren, war sie geblieben und hatte jeden Tag und jede Nacht mit ihren Waffen auf den leeren Feldern trainiert, mit ihren Waffen und ihren Zielen. Zuerst waren sie überrascht gewesen, wenn sie am nächsten Tag zurückgekommen waren und Pfeile in ihren Zielen gefunden hatten – mitten im Zentrum. Doch mit der Zeit hatten sie sich daran gewöhnt.
Kyra hatte angefangen, sich ihren Respekt zu verdienen, besonders bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie ihr erlaubt hatten, sich ihnen anzuschließen. Doch jetzt, zwei Jahre später, wusste sie, dass sie Ziele treffen konnte, die für die meisten von ihnen zu schwierig waren – und die bloße Toleranz hatte sich zu etwas anderem gewandelt: Respekt. Natürlich hatte sie nie in einer Schlacht gekämpft wie diese Männer, hatte nie einen Mann getötet, bei den Flammen Wache gestanden, oder war einem Troll in einem Kampf begegnet. Sie konnte auch nicht mit einem Schwert, einer Kriegsaxt oder einer Hellebarde umgehen; sie konnte nicht Ringen wie diese Männer, denn sie besaß nicht annähernd ihre körperliche Stärke, was sie zutiefst bedauerte.
Doch Kyra hatte festgestellt, dass sie ein natürliches Talent für zwei Waffen besaß, die sie beide trotz ihres Geschlechts und ihrer Größe zu einer gefährlichen Gegnerin machten: ihr Bogen und ihr Stab.
Vom Bogen war sie schon immer fasziniert gewesen, ihr Talent mit dem Stab hatte sie vor Monden eher zufällig entdeckt, als sie es nicht geschafft hatte, ein zweihändiges Schwert zu heben. Damals hatten sich die Männer darüber lustig gemacht, und einer hatte ihr eher zum Hohn einen Stab zugeworfen.
„Schau, ob du stattdessen den Stock heben kannst!“, hatte er gelacht. Kyra hatte nie vergessen, wie sehr sie sich damals geschämt hatte.
Zuerst war es ein Witz gewesen, und sie schien den Respekt, den sie sich zuvor verdient hatte, verloren zu haben.
Doch sie hatte den Witz zu einer unerwarteten Waffe der Rache gemacht, einer Waffe, vor der man sich fürchten musste. Eine Waffe, gegen die sich zwischenzeitliche viele der Männer ihres Vaters nicht zu verteidigen wussten.
Kyra war über das leichte Gewicht des Stabes überrascht gewesen, und noch überraschter, als sie ihr natürliches Talent dafür entdeckte. Sie war so schnell, dass sie damit schon Treffer landen konnte, während die Männer noch ihre Schwerter zogen. Mehr als nur einer der Männer, mit denen sie trainiert hatte, war grün und blau gewesen, als er den Kampfplatz verlassen hatte, und Schlag um Schlag hatte sie sich ihren Respekt erkämpft.
Durch endlose Nächte des Trainierens, in denen sie sich die Techniken selbst beigebracht hatte, hatte sie Bewegungen gemeistert, die die Männer überraschten, die keiner von ihnen wirklich nachvollziehen konnte. Sie hatten sich interessiert gezeigt, und sie hatte es ihnen beigebracht. Kyra war der Ansicht, dass ihr Bogen und ihr Stab einander komplimentierten und beide gleich wichtig waren: den Bogen brauchte sie für ferne Ziele, den Stab für den Kampf Mann gegen Mann.
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