Als ihr Vater sich näherte, wanderten alle Augen zu ihm, und die Menge machte ihm respektvoll Platz. Da stand er, ein Berg von einem Mann, der alle anderen um einiges Überragte. Sein ungezähmter Bart und seine langen braunen Haare waren von grauen Strähnen durchzogen, über seinen Schultern hing ein Umhang aus Fell und am Gürtel trug er zwei lange Schwerter und einen Speer auf dem Rücken. Sein Rüstzeug, Schwarz, wie das aller Männer aus Volis, hatte einen Drachen auf dem Brustpanzer graviert, das Wappen ihres Hauses. Seine Waffen trugen Scharten und Kratzer von viel zu vielen Kämpfen, und er strahlte Erfahrung aus. Er war ein Mann, den man fürchten musste, ein Mann den man bewundern musste, und ein Mann von dem alle wussten, dass er gerecht war. Ein Mann der von allen geliebt und respektiert wurde.
„Kyra hat den Eber erlegt“, wiederholte er, und warf dabei ihren Brüdern einen missbilligenden Blick zu. Dann wandte er sich Kyra zu, wobei er die Männer des Lords vollkommen ignorierte. „Es ist an dir, zu entscheiden, was mit ihm geschehen soll.“
Kyra erschrak über die Worte ihres Vaters. Sie hätte nie mit seiner Anerkennung gerechnet, und schon gar nicht damit, dass er ihr eine so schwerwiegende Entscheidung überlassen würde. Denn es war nicht einfach nur eine Entscheidung über den Eber, das wussten sie beide, sondern auch über das Schicksal ihrer Leute an diesem Tag.
Angespannte Krieger standen auf beiden Seiten bereit, die Händen an den Schwertern, und sie betrachtete ihre Gesichter, die sie fragend ansahen und auf ihre Antwort warteten. Sie wusste, dass ihre nächsten Worte, ihre nächste Entscheidung die wichtigsten waren, die sie je in ihrem Leben gesprochen hatte.
Merk wanderte langsam den Pfad hinunter durch Whitewood, und dachte dabei über sein Leben nach. Seine vierzig Jahre waren keine leichten gewesen; er hatte sich nie zuvor die Zeit genommen, durch den Wald zu wandern und die Schönheit um ihn herum zu bewundern. Er sah auf die weißen Blätter hinab, die unter seinen Füssen raschelten, begleitet vom leisen Geräusch seines Stabs auf dem weichen Waldboden; im Gehen blickte er auf und nahm die Schönheit der Aesopbäume mit ihren glänzenden weißen Blättern an den leuchtend roten Ästen, die in der Morgensonne glänzten in sich auf. Die Blätter fielen wie Schnee auf ihn herab, und zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er ein Gefühl des Friedens.
Von durchschnittlicher Größe und Statur mit schwarzen Haaren und einem immer unrasiert wirkenden Gesicht mit breitem Kiefer und markanten Wangenknochen und schwarzen Augen mit dunklen Ringen darunter, wirkte Merk immer, als hätte er tagelang nicht geschlafen. Und so fühlte er sich meistens auch. Doch nicht jetzt. Jetzt fühlte er sich endlich ausgeruht. Hier, in Ur, im Nordwesten von Escalon, gab es keinen Schnee. Die angenehme Brise vom Meer her, das nur einen Tagesritt gen Westen entfernt lag, sorgte für ein wärmeres Klima und erlaubte Blättern jeder Farbe zu gedeihen. Es erlaubte Merk auch, nur mit einem dünnen Umhang zu reisen, anstatt sich vor den eisigen Winden schützen zu müssen. Er musste sich immer noch daran gewöhnen, dass er einen Mantel anstelle eines Harnischs trug, einen Stab anstelle eines Schwertes, und dass er mit seinen Stab in Blätter stach und nicht mit einem Dolch in Feinde. All das war neu für ihn. Er wollte lernen, wie es war, dieser neue Mensch zu werden, der er so gerne sein wollte. Es war friedlich – und doch unbehaglich. Als ob er vorgab jemand zu sein, der er nicht war.
Denn Merk war kein Reisender, kein Mönch – und schon gar kein friedlicher Mann. Der Krieger lag ihm immer noch im Blut. Er war auch nicht irgendein Krieger; er war ein Mann, der nach seinen eigenen Regeln kämpfte, und er hatte nie auch nur eine Schlacht verloren. Er war ein Mann, der sich nicht vor einem Kampf fürchtete, egal ob es auf einer Tournierbahn war oder in einer der Tavernen in den Seitenstraßen, die er so gerne besuchte. Manche Leute bezeichneten ihn als Söldner. Als Assassinen. Als gekauftes Schwert. Es gab viele Bezeichnungen für das, was er tat, manche davon noch viel weniger schmeichelhaft, doch Merk machte sich nichts aus Titeln und Bezeichnungen, oder daraus, was andere Leute dachten. Alles was ihm wichtig war, war dass er einer der Besten war.
Um die Rolle zu erfüllen hatte Merk schon auf viele Namen gehört, und wechselte sie nach Lust und Laune. Den Namen, den sein Vater ihm gegeben hatte, mochte er nicht – genau genommen mochte er seinen Vater ebenso wenig – und er hatte nicht vor mit dem Stempel eines Namens durchs Leben zu gehen, den ihm jemand anderes aufgedrückt hatte. Merk war der letzte in einer ganzen Reihe von Namen, und für den Augenblick gefiel er ihm. Es war ihm egal, wie die anderen ihn nannten. Ihn interessierten nur zwei Dinge im Leben: den perfekten Eintrittspunkt für die Spitze seines Dolches zu finden, und dass seine Auftraggeber ihn in frisch gemünztem Gold bezahlten – einer Menge Gold.
In jungen Jahren hatte Merk entdeckt, dass er ein natürliches Talent besaß, und, in dem, was er tat, besser war als alle anderen.
Seine Brüder, genau wie sein Vater und alle seine berühmten Vorfahren, waren stolze und edle Ritter in den besten Rüstungen, mit den besten Waffen, die auf ihren edlen Pferden umherritten und ihre Banner und Haare im Wind wehen ließen, während die Damen ihnen Blumen vor die Füße warfen. Sie hätten nicht stolzer auf sich selbst sein können.
Doch Merk verabscheute den Prunk und die Aufmerksamkeit. Diese Ritter erschienen ihm schwerfällig beim Töten, unglaublich uneffektiv, und Merk hatte keinen Respekt für sie übrig. Er brauchte all die Anerkennung auch nicht, die Insignien oder Banner oder Wappen, die die Ritter so heiß begehrten. Das war für Leute, denen es an der Sache fehlte, die am wichtigsten war: der Fähigkeit, einem Mann leise, schnell und effizient das Leben zu nehmen. Alles andere stand für ihn nicht zur Debatte.
Als er jung war, und auf seinen Freunden, die zu klein waren, um sich selbst zu verteidigen, herumgehackt worden war. Waren sie zu ihm gekommen, da er schon damals als außergewöhnlich guter Schwertkämpfer bekannt gewesen war – und er hatte ihre Bezahlung angenommen. Die, die sie gequält hatten, taten es nie wieder, sie anzufassen, da Merk immer einen Schritt weiterging. Seine Fähigkeiten waren bald weitbekannt, und als Merk mehr und mehr Aufträge annahm, wuchsen auch seine Fähigkeiten, was das Töten anging.
Merk hätte ein Ritter werden können, ein gefeierter Krieger wie seine Brüder. Doch er hatte sich stattdessen dafür entscheiden, im Schatten zu wirken. Als er das erlangte, was ihn interessierte, nämlich tödliche Effizienz, erkannte er schnell, dass Ritter mit all ihren schönen Waffen und schwerfälligen Rüstungen nicht so schnell und effizient töten konnten wie er, ein einzelnen Mann mit Lederharnisch und einem scharfen Dolch.
Während seiner Wanderung spießte er mit seinem Stab die Blätter auf und erinnerte sich an eine Nacht in der Taverne mit seinen Brüdern, als feindliche Ritter ihre Schwerter gezogen hatten. Seine Brüder waren umzingelt gewesen, in der Unterzahl; doch während all die schicken Ritter herumstanden, hatte Merk nicht gezögert. Er war mit seinem Dolch durch ihre Reihen gehuscht und hatte ihnen die Hälse aufgeschlitzt, bevor sie auch nur ihre Schwerter heben konnten.
Seine Brüder hätten ihm danken sollen, doch stattdessen distanzierten sie sich von ihm. Sie fürchteten ihn, und sie blickten auf ihn herab. Das war die Dankbarkeit, die er erhielt, und ihr Verrat verletzte Merk tiefer, als er zugeben wollte. Er vertiefte den Bruch zwischen ihnen, mit all ihrer edlen Ritterlichkeit. In seinen Augen war alles nur eigennützige Heuchelei. Sollte sie doch in ihren glänzenden Rüstungen herumlaufen und auf ihn herabblicken, doch wenn er mit seinem Dolch nicht gewesen wäre, wären sie alle tot.
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