Und spätestens, wenn man dann voreinander stand und sich schweigend die schwarze Scheibe überreichte, dämmerte es einem vielleicht: Hier läuft ironischerweise etwas nicht rund.
Erst Jahre später kristallisierte sich heraus, dass die Nutzung dieser Technologie zur Aufzeichnung und zum Abspielen von Musik weitaus mehr Interesse hervorrief. Aus heutiger Sicht wirkt das noch ein wenig lustiger, wenn man bedenkt, dass Edison im Prinzip die Sprachnachricht vorweggenommen hatte, die aktuell dabei ist, in weiten Teilen das klassische Telefonieren abzulösen. Heute spart man sich allerdings die Auslieferung der schwarzen Scheiben, man sitzt sich halt gegenüber und schickt sich gegenseitig Sprachnachrichten aufs Smartphone.
Ebenso »aus Versehen« erfunden wurde im 19. Jahrhundert hitzebeständiges Gummi. Der Chemiker Charles Goodyear hatte seinerzeit nämlich eigentlich mit seiner Frau abgemacht, dass er nicht mehr experimentieren, sondern sich einen Job suchen würde. Als sie eines Tages zu früh nach Hause kam, geriet er in Panik und wollte seine Experimente versteckten. Er sah sich um, fand keine Möglichkeit und war wohl schon kurz davor, sich seinem Schicksal zu ergeben, als sein Blick auf den Ofen fiel. Das wird schon passen, dachte er und versteckte seine Experimente darin. Was er dabei nicht bemerkt hatte, war jedoch, dass der Ofen noch warm war, und so entdeckte er unabsichtlich hitzebeständiges Gummi.
Ähnlich erging es Christian Schönbein, der ohne Absicht rauchloses Schwarzpulver erfand. Ihm waren seine Chemikalien vom Tisch gefallen, also wischte er sie mit der Schürze seiner Frau schnell weg und hängte diese dann zum Trocknen vor den Ofen. Dort explodierte die Schürze, und Herr Schönbein wird sich erst erschreckt, dann aber doch gefreut haben. Bei anderer Gelegenheit erfand jemand beim klassischen alchemistischen Versuch, aus Blei Gold zu erzeugen, mehr oder weniger aus Versehen das Porzellan. Ob er es vor Schreck fallen ließ, ist nicht überliefert.
Trotz aller Pläne, die sich der Mensch so macht, findet unsere Kreativität scheinbar oft einen Weg, der zunächst wie eine Störung wirken mag. Aber genau dieser Fehler, dieses Stolpern, bringt unabsichtlich Tolles hervor. Dieses Phänomen ist so bekannt, dass es sogar einen eigenen Namen hat, es heißt Serendipität. Benannt ist es nach den drei Prinzen von Serendip. Sie haben noch nie von Serendip gehört? Es ist der alte persische Name der Insel Sri Lanka. Die drei besagten Prinzen sind losgezogen, um einen Drachen zu erlegen. Was Prinzen eben so machen. Es scheint ein weltweit prinzentypisches Verhalten gewesen zu sein. Heutzutage werden sie höchstens mal vor ein paar blitzlichtspeiende Paparazzi geschubst. Die drei Prinzen von Serendip jedoch kamen ohne erlegten Drachen von ihrer Mission zurück, brachten aber stattdessen drei bildhübsche Prinzessinnen mit. Eine Win-win-Situation, insbesondere auch für den Drachen. Und so nennt man ungeplante positive Ergebnisse bis heute Serendipität. Ich bin ganz froh, dass diese Prinzen aus Serendip kamen und nicht aus Deutschland. Sonst hieße dieses schöne Phänomen jetzt womöglich Deutschlandität.
Apropos Deutschland, der niederländische Serendipitiologe Pek van Andel behauptet, über tausend Fälle solcher ungeplanten Errungenschaften, die sich im Nachhinein als Glücksgriff erwiesen, gesammelt zu haben. Seine Forschungen werden von der Fachwelt leider nicht ganz so ernst genommen. Vielleicht, weil man van Andel ansonsten hauptsächlich daher kennt, dass er als erster ein MRT von Menschen während des Geschlechtsverkehrs angefertigt hat. Aber mal im Ernst: Der experimentelle Charakter der Wissenschaft fordert dazu heraus, auch und insbesondere Ergebnisse zu finden, die den Hypothesen widersprechen. Auf diesem Weg erweitert sich unser Wissen umso mehr, denn wir wissen ja schon aus dem dritten Kapitel dieses Buches: In jeder Diskussion gewinnt nur der Unterlegene, denn er ist der Einzige, der etwas dazulernen kann.
Der britische Psychologe Richard Wiseman geht davon aus, dass es unsere Einstellung und Denkweise ist, die uns dabei hilft, solche Glücksgriffe zu landen: »Durch ihre Art zu denken und zu handeln steigern manche Menschen die Chance, außerordentliche Gelegenheiten in ihrem Leben zu schaffen, zu erkennen und zu ergreifen.« Ich würde noch ein bisschen weitergehen und sagen: Man muss die Fähigkeit haben, sich richtig dumm anzustellen, um außerordentliche Gelegenheiten zu schaffen und zu ergreifen. Da haben wir alle zum Glück ziemlich gute Karten.
Doch aus Versehen oder durch Ahnungslosigkeit entsteht natürlich nicht nur Serendipität, sondern gerne auch mal eine spektakuläre Fehleinschätzung. Wer uns in diesem Punkt als leuchtendes Beispiel voranging, war Dr. Dionysius Lardner. »Eisenbahnreisen mit hoher Geschwindigkeit ist unmöglich, denn die Passagiere wären unfähig zu atmen und würden allesamt ersticken«, schrieb er zum Beispiel im Jahr 1845. Während ich dieses Zitat abtippe, befinde ich mich tatsächlich gerade im ICE zwischen Wolfsburg und Berlin. Vor den Fenstern huscht die Magdeburger Börde mit atemberaubender Geschwindigkeit vorbei. Und dennoch: Ich atme. Wunder werden Wirklichkeit.
Dionysius Lardner war ein erstaunlicher Mann, der sich in seinem Leben mehrfach spektakulär täuschte und dabei wieder und wieder von ein und demselben Mann öffentlich zurechtgewiesen wurde: Isambard Kingdom Brunel. Der Mann hatte nicht nur den einzigen cooleren Namen als Dionysius Lardner, sondern gilt bis heute als einer der besten Ingenieure aller Zeiten. Er baute zum Beispiel das größte Schiff seiner Zeit, das zugleich das erste ozeantaugliche Eisenschiff war, und er baute den ersten Tunnel unter einem navigierbaren Fließgewässer. Man kann also sagen, Isambard Kingdom Brunel hatte es drauf.
Lardner hingegen dachte, es sei unmöglich, lange Eisenbahntunnel zu bauen, weil darin die Züge unkontrolliert beschleunigen würden. Und motorisierte Schiffsreisen über 2000 Seemeilen seien ausgeschlossen, weil ein Schiff nicht genug Treib stoff mit sich führen könnte. Oder eben, dass Eisenbahnreisen über einer bestimmten Geschwindigkeit tödlich wären. Brunel widerlegte Lardners Thesen eine nach der anderen. Es ist daher davon auszugehen, dass Lardner kein führendes Mitglied im Brunel-Fanclub war. Sein Plan, sich an Brunel zu rächen, indem er ihn in einen Hochgeschwindigkeitszug setzte, scheiterte ebenfalls. Damals war der ICE noch nicht erfunden. Andererseits ist Dionysius Lardner natürlich nicht der Einzige, der sich auf rückblickend erstaunliche Art gegen den Fortschritt äußerte. Leopold Loewenfeld beschreibt in seinem Buch Über die Dummheit, wie ein Expertenkomitee der Universität München Ende des 19. Jahrhunderts befürchtete, die blitzschnellen Bewegungen der Bahn könnten bei Reisenden eine Gehirnerschütterung auslösen. Ihr Vorschlag? Auf beiden Seiten der Bahnstrecken sollten Holzwände errichtet werden. Gut, dass das der arme Lardner nicht mehr mitgekriegt hat.
Apropos Kopfschmerzen: Im Jahr 1910 wurde die FAAS gegründet, eine Gruppe namens Farmer’s Anti Automobile Society. Diese Gruppe wollte, dass alle Automobile, die nachts auf Landstraßen unterwegs waren, jede Meile anhielten, also grob gesagt alle 1,5 Kilometer. Dann sei eine kleine Leuchtrakete zu starten und zehn Minuten zu warten, bis sicher sei, dass die Straße frei ist. Dann erst sollte man weiterfahren dürfen, aber zur Sicherheit viel hupen. Noch besser wäre, wenn bei jeder Fahrt ein Mensch vorneweglaufe und zur Warnung eine rote Fahne schwenke. Sollten einem jedoch Pferde entgegenkommen, ging der Spaß erst richtig los. Dann wollte die FAAS, dass der Autofahrer sein Auto am Straßenrand parkte und unter einer Decke versteckte, die im Idealfall wie die Umgebung gefärbt sei. Sollte das Pferd das Auto trotzdem entdecken und nicht passieren wollen, sollte es die Pflicht des Autofahrers sein, das Auto zu demontieren und die Teile im Straßengraben zu verstreuen. Erst wenn das Pferd diese Aktivität freundlich abnickte und weitertrabte, dürfte man sein Auto wieder zusammensetzen und weiterfahren. Zumindest 1,5 Kilometer, dann war es Zeit für die nächste Warnrakete. Es ist historisch nicht ganz gesichert, ob dieser Gesetzesentwurf jemals in Kraft trat. Heute gilt er jedenfalls nicht mehr. Das finde ich sehr schade, denn für mich wäre das eine sehr gute Motivation, das Reiten zu lernen.
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