1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 Nicht nur, aber auch und insbesondere im Gesundheitsbereich wird offenbar gerne mit Beispielen aus dem persönlichen Umfeld argumentiert. Vermutlich kennt jede und jeder die Geschichte eines Kettenrauchers, der beinah hundert Jahre alt geworden wäre. Wenn er nicht mit 35 Jahren an Lungenkrebs gestorben wäre. Natürlich funktioniert das in beide Richtungen, und es ist nur sehr schwer möglich, auf dieser persönlichen Ebene etwas Argumentatives vorzubringen, ohne eben persönlich zu werden. Oder persönlich genommen zu werden. Also lassen wir mal eben unsere Mütter aus dem Spiel und auch den Cousin dritten Grades, der durch Handauflegen von seiner Oligophrenie geheilt wurde. Betrachten wir mal einen Moment ein paar Fakten.
Nach den Plänen der Weltgesundheitsorganisation WHO sollten die Masern bis 2020 ausgerottet sein. Die Zahl der Infektionen nimmt jedoch seit einigen Jahren wieder deutlich zu, im Jahr 2018 um mehr als 30 Prozent. Und um den Ernst der Lage zu unterstreichen, der hinter dieser »Kinderkrankheit« steckt: Im Jahr 2017 allein gab es weltweit 110 000 Tote durch Masern. Dabei war man bis vor Kurzem auf einem guten Weg: Nach Schätzungen der WHO sind allein zwischen 2000 und 2017 21,1 Millionen Tote durch flächendeckende Masern-Impfungen verhindert worden, die Infektionsrate sank tatsächlich um 80 Prozent. Was ist also passiert?
Nun, in allererster Linie veröffentlichte 1998 der Brite Andrew Wakefield in der Zeitschrift The Lancet einen Artikel, in dem er einen Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung und Autismus herstellt. In der Folge sank der Impfspiegel in Großbritannien massiv. Nun muss man wissen, dass Wakefield nur zwölf Kinder untersucht hatte. Erste Untersuchungen kleiner Gruppen sind in der Wissenschaft nicht unüblich, erfordern aber, bevor sie wirklich aussagekräftig sind, die Überprüfung ihrer Ergebnisse in größeren Studien. Eine Reproduktion von Wakefields Ergebnissen ist allerdings in der Folge nicht gelungen, im Gegenteil. Studien an Zigtausenden von Kindern haben keinen Zusammenhang herstellen können, ob in Kanada, Dänemark, Japan oder anderswo. Was man jedoch herausfand, war, dass Wakefield im Vorfeld der Studie Gelder von einer Gruppe Anwälte erhalten hatte, die einige der zwölf Kinder und deren Familien vertraten und eine Klage gegen den Hersteller des Impfstoffs vorbereiteten und dafür Belege benötigten, die die Studie liefern sollte. Als das ans Licht kam, wurde die Studie komplett zurückgezogen und Wakefield 2010 die Zulassung als Arzt entzogen. Er hat seine Fehler eingesehen und lebt nun zurückgezogen in einer Hütte in den schottischen Highlands, wo er Schafe züchtet.
Ich mach nur Spaß, natürlich hat sich Wakefield nicht zurückgezogen, im Gegenteil: Er ist inzwischen eine Art Galionsfigur der Bewegung der sogenannten Impfgegner, oder, noch euphemistischer: Impfskeptiker. Zu denen gehört seit einiger Zeit auch US-Präsident Donald Trump. Wie mächtig die Bewegung nach wie vor und trotz aller Gegenbeweise ist, sieht man daran, dass Masern nach wie vor und in wachsendem Maße ein Problem sind. Ich sag das noch mal ganz langsam: Eine Studie, deren Macher bestochen wurden und deren Ergebnisse widerlegt sind, ist bis heute so einflussreich, dass sie verhindert, dass die Masern ausgerottet werden. Stattdessen sterben weiterhin zigtausend Kinder pro Jahr, darunter nicht wenige, die noch zu jung für eine Impfung waren. Allein auf der Südseeinsel Samoa, auf der lediglich 200 000 Menschen leben, starben im Herbst 2019 bei einem Masernausbruch 42 Menschen, fast alles kleine Kinder. Was für eine Katastrophe. Gerade, weil sie so vermeidbar wäre.
Insbesondere in sozialen Netzwerken wie Facebook wird jedoch weiterhin ungebremst gegen Impfungen Stimmung gemacht; Gegenredner*innen werden niedergemacht und übel beschimpft. Obwohl das übrigens nicht so sein müsste, wie das soziale Netzwerk Pinterest vorgemacht hat. Nachdem die Plattform kritisiert wurde, weil sich dort viele Impfgegner*innen tummelten, verbot sie kurzerhand die Verbreitung solcher Inhalte. Und bevor Sie jetzt »Zensur« schreien, bedenken Sie bitte, dass die WHO die Impfgegner selbst inzwischen als weltweites Gesundheitsrisiko eingestuft hat, gemeinsam mit Dingen wie Ebola, Antibiotikaresistenzen und Luftverschmutzung. Nicht die Masern oder die Impfungen, sondern die Impfgegner*innen!
Und ja, ich weiß und alle anderen wissen auch, dass Impfungen Nebenwirkungen haben können. Aber erstens sind diese sehr überschaubar, zweitens bestehen diese ganz sicher nicht in Autismus, und drittens würden zumindest Masernimpfungen bald nicht mehr nötig sein, ebenso wenig wie Impfungen gegen Pocken: Die Menschheit könnte diese gefährliche Krankheit nämlich vergleichsweise einfach komplett besiegen. Es gäbe sie dann nicht mehr, damit wären ironischerweise auch Impfungen überflüssig. Wenn wir uns halt nur nicht so unglaublich dumm anstellen würden. Mal am Rande gefragt, selbst wenn Wakefields hanebüchene These wahr wäre: Was ist eigentlich so schlimm an Autismus, dass man lieber zigtausend Kinder sterben lässt?
Aber es gibt ganz aktuell Anlass zur Hoffnung, auch oder gerade weil die Zahlen sich weiter verschlechtern. In der ersten Hälfte 2019 sind die Masernfälle noch mal rapide angestiegen, laut WHO gab es in Europa im Vergleich zum Vorjahreszeitraum eine Verdopplung der Infektionen. Das Gesundheitsministerium plant nun, während ich diese Zeilen hier schreibe, im März 2020, also genau dann, wenn dieses Buch erscheint, die Masernimpfpflicht einzuführen. Wer weiß, vielleicht ist dieser Abschnitt also schon reif für den Papierkorb der Medizingeschichte, wenn Sie das lesen. Es wäre zu hoffen.
Wo ich mich gerade schon in Rage geredet habe: Soll ich vielleicht noch einen Absatz über Homöopathie hinterhersetzen? Unglaublich stark verdünnte Mittel, die allen Ernstes durch eine bestimmte, abgezählte und per Hand durchgeführte Schütteltechnik ihre Wirksamkeit erhalten sollen, jedoch (Überraschung!) laut Dutzenden wissenschaftlichen Studien nachweislich keine über den Placeboeffekt hinausweisende Heilwirkung haben?
Wie bitte, ich soll nicht alle Naturheilmethoden verdammen, weil Ihr Cousin dritten Grades mal durch Handauflegen von seiner Oligophrenie geheilt wurde? Was hat denn das … ne, Moment, Moment! Wissen Sie was? Vielleicht sollten Sie das Buch einfach nicht weiterlesen. Schneiden Sie alternativ eine stecknadelkopfgroße Ecke dieser Seite aus und lösen Sie diese in warmem Wasser. Die entstandene Lösung verdünnen Sie um 100 000 000 Grad, dann schütteln Sie das Ganze genau zwölfmal und pressen die erzeugte Lösung mit etwas Zucker zu einem winzigen Kügelchen. Schließlich werfen Sie dieses Kügelchen beim nächsten Vollmond in das nächstgelegene Fließgewässer und denken dabei ganz fest daran, dass Ihre Behandlungsmethoden von den Menschen der Zukunft weitaus lächerlicher gefunden werden als die altägyptischen Mittel gegen Haarausfall oder ein nacktes Huhn als Hut gegen die Pest.
Statt endlos verdünntem Wasser sollten wir vielleicht lieber mit dem Kopf schütteln – aber nicht zu sehr, damit das Huhn nicht herunterfällt! Ich freu mich schon auf die heiteren Zuschriften von Homöopathie-Fans, die schon in der Vergangenheit durch Shitstorms gegen Kritiker*innen gezeigt haben, wie gut sie vernetzt sind. Aber wissen Sie, was noch besser vernetzt ist? Die Nervenzellen im Gehirn im Kopf, den ich gerade schüttele. Obwohl es über einhundert Milliarden Zellen sind, ist jede einzelne mit jeder anderen über maximal vier Ecken verbunden. Nicht zuletzt deshalb ist unser Gehirn der komplexeste Gegenstand, den die Menschheit kennt. Nun ist unser Gehirn aber natürlich auch die Instanz in uns, die Dinge kennt, und vielleicht kann es einfach nichts Komplexeres als sich selbst erkennen. Oder was meinen Sie? Kann unser Gehirn einen Gedanken denken, der so komplex ist, dass er unser Gehirn übertrifft? Denken Sie mal darüber nach, am besten am Gehirn vorbei.
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