»Verteidigung der freien Welt« war das Schlagwort der Amerikaner. Die weitreichende Spekulation, die sich hinter dieser Phrase verbarg, erwähnte anstandshalber niemand öffentlich, und doch gab es keinen französischen Kommandeur in Indochina, der sie nicht kannte.
Navarre hatte ein gutes Maß Ehrgeiz auf seinen neuen Posten mitgebracht. Schließlich konnte er hier beweisen, daß er an taktischem Geschick seine in der Militärhierarchie Frankreichs nicht gerade unbedeutenden Vorgänger zu übertreffen imstande war.
Er blickte auf, als Hochkommissar Letourneau ihm ein soeben aus Paris eingetroffenes Fernschreiben überreichte. Der Inhalt überraschte den General nicht. Was da bestätigt wurde, hatte er selbst von Saigon aus, wo er noch vor Tagen gewesen war, veranlaßt.
»Rufen Sie Cogny!« trug er einem Adjutanten auf.
Der Brigadier baute sich vor ihm auf, eine eindrucksvolle Figur, sichtlich um militärische Straffheit bemüht. Sein Tarnanzug hob ihn um einiges von den festlich aufgeputzten Gästen ab, deren Hemden durchgeschwitzt waren, unter deren Achseln sich dunkle, feuchte Flecken bildeten. Navarre lächelte. Er besann sich aber sogleich, daß jedes Lächeln sein Gesicht zur Visage eines Fauns werden ließ, und wurde wieder ernst, als er ihn ansprach: »Brigadier Cogny, ich ernenne Sie im Auftrag der Regierung der Republik zum Général de Division!«
Er übergab ihm das Fernschreiben, weil die für den Beförderungsakt fällige Urkunde noch nicht eingetroffen war. Dann nahm er aus der Hand des Adjutanten mehrere Exemplare des dritten Sterns und gab sie dem Beförderten.
Cogny bedauerte es, daß er sein Képi abgenommen hatte und deshalb nicht die Hand zum militärischen Gruß heben konnte. Er liebte Fotos, die ihn bei der Flaggenparade zeigten, mit der Hand am Mützenrand, alle anderen in seiner Größe überragend. Ein Hauch von Bedeutsamkeit! Jetzt mußte er es dabei belassen, das breite Kinn an die Brust zu drücken und Navarre laut und deutlich zu versichern, er werde sich des Vertrauens, das in ihn gesetzt werde, würdig erweisen.
Es fiel nicht auf, daß er sich nicht ausdrücklich bedankte. Das wäre nicht Cognys Stil gewesen. Er hatte lange auf Beförderung gewartet, und wenn ihn etwas daran beeindruckte, dann war es der Umstand, daß seine Ernennung zum Divisionsgeneral eine der ersten Amtshandlungen Navarres war. Dazu kam die nüchterne Rechnung, daß nun, nachdem die Garnitur der »Alten« heimfuhr, er, Cogny, der erfahrenste Kommandeur auf dem Kriegsschauplatz sein würde, mithin zwangsläufig der engste Berater Navarres in allen entscheidenden Fragen. Navarre sollte einen zuverlässigen Vertrauten in ihm haben!
Wie zügig Navarre über berechnete Präliminarien zum Kern der Sache vorzustoßen gedachte, zeigte sich wenige Minuten später. Die Kapelle schweißtriefender Militärmusiker auf der Empore im Hintergrund hatte sich durch eine Serie von Märschen gequält und griff nach den Biergläsern. Navarre machte Cogny ein Zeichen. »Ich habe noch mit Ihnen zu reden.«
Der Adjutant achtete darauf, daß sie sich an einem Tisch, abseits des Gedränges, ungestört unterhalten konnten.
»Übrigens werde ich Sie zum Oberbefehlshaber unserer in Tongking operierenden Truppen ernennen«, begann Navarre. Er winkte ab, als Cogny seine Freude darüber ausdrücken wollte. »Sprechen wir über unsere Aufgabe hier. Etwas unübersichtlich geworden, der Krieg, wie?«
Cogny erklärte, das Delta des Roten Flusses, die am dichtesten besiedelte, an Reis reichste und für den Verkehr wichtigste Gegend, sei einigermaßen gesichert durch die überall errichteten Bunker, aus denen heraus das Umfeld überwacht werden könnte. Er drückte sich vorsichtig aus, sagte »einigermaßen«. Dieser neue Oberkommandierende war kein Narr; er sah selbst, wie die Dinge standen.
»Immer schon habe ich überlegt«, fuhr Navarre fort, »ob wir uns hier nicht auf eine für uns nachteilige Defensivtaktik eingelassen haben. Wir sind eine mobile Armee, beweglich, auf den Angriff trainiert. Warum müssen wir unsere Leute in diese Betonklötze stecken und dort langsam faul und fett werden lassen? Glauben Sie nicht, daß wir zum Angriff zurückfinden müssen, Cogny?«
Der neuernannte Divisionsgeneral machte eine Kopfbewegung, die Zweifel andeutete. »Ich weiß nicht, mon Général, vielleicht sollten wir das. Aber dies ist kein normales Land, und die Vietminh sind keine normale Armee, die sich so einfach zur Schlacht stellt. Wie oft haben wir in der Vergangenheit irgendwo eine Ortschaft, eine Gegend durchkämmt, von Gegnern gesäubert – mit dem Ergebnis, daß nach ein paar Wochen alles wieder beim alten war! Im Delta tun wir alles, damit unsere Übersicht nicht total zusammenbricht …«
»Ich meine nicht tausend kleine Angriffe, Cogny«, unterbrach ihn Navarre. »Für mich geht es um die strategische Offensive, die Umkehr der Lage. Anstatt uns andauernd vor den Vietminh zu verteidigen, müssen wir dafür sorgen, daß sie dort, wo sie sich ungefährdet dünken, wo sie ihre Reserven haben, in ihrem Hinterland, unsere Operationen fürchten lernen.«
»Haben Sie entsprechende Vorschläge?«
»Vorerst nur diesen Vorsatz«, gab Navarre zurück. »Aber ich werde mir in den nächsten Tagen durch Erkundungsflüge einen Überblick verschaffen, wie die Dinge tatsächlich stehen. Hier ist, wie mir scheint, zu lange geschlafen worden.«
»Eins ist jedenfalls sicher«, erklärte ihm Cogny mit Überzeugung, »einen Angriff auf das Delta, auf Hanoi und Haiphong können die Roten nicht wagen. Weder jetzt noch später. Hier kommt uns das Gelände zu Hilfe, hier können wir unsere Materialüberlegenheit voll ausspielen. Das Delta ist sicher!«
Navarre nickte bedächtig. »Ich glaube, die Vietminh sind gar nicht am Delta interessiert, jedenfalls im Augenblick nicht. Sie bevorzugen die gebirgigen Regionen des Nordens, die Urwaldlandschaften, wo sie jeden beliebigen Unterschlupf finden. Dort können sie ihre Streitkräfte in aller Ruhe trainieren, auf Angriffe vorbereiten; dort verlaufen ihre logistischen Linien bis nach China hinein. Müssen wir nicht diese Ruhe stören?«
Cogny mußte zugeben, daß dies der Kern der Sache war. Und Navarre fügte seinen Überlegungen hinzu: »Betrachten Sie, wie sich die Lage in Laos entwickelt. Dort oben, in dem Gebiet, das an das Hinterland der Vietminh grenzt, herrschen in zwei entscheidenden Provinzen ebenfalls bereits Rote. Nennen sich Pathet Lao. Werden von den Vietminh unterstützt. Haben Sie die Landkarte im Kopf? Vergegenwärtigen Sie sich das militärische Potential, das sich da aufbaut! Der ganze Norden – ein massiver roter Block …«
»Nun«, wandte Cogny ein, »wir haben ja auch weiter im Süden, im zentralen Hochland und um Saigon beträchtliche Vietminh Konzentrationen …«
Das bestätigte Navarre. Man war bei der Sache.
»Mir ist davon berichtet worden. Diesen roten Kräften im Süden sollte unser nächster Schlag gelten. Wir müssen uns den Rücken freihalten, wenn wir hier im Norden offensiv werden wollen. Das heißt, den Süden mit Entschlossenheit säubern.«
Cogny vermeinte zu spüren, daß Navarre auf eine Art frontaler Bereinigung hinauswollte, auf ein Aufrollen des Gegners von Süden nach Norden. Das schien ihm so unsinnig, daß er sich vorsichtig erkundigte, wie er die Bemerkung verstehen solle, im Norden offensiv zu werden. Navarre versicherte ihm, es handele sich bei seinen Gedankengängen nicht um eine Aufrolltaktik. Er wisse sehr genau, der Charakter dieses Landes lasse das einfach nicht zu.
»Es wird keine endgültig gesicherten Gebiete geben, Cogny«, sagte er. »Nie werden wir das erreichen. Aber wir sind mobil. Wir können schnell irgendwo Schwerpunkte schaffen und dem Gegner Schlachten aufzwingen. Was Sie da im Delta machen, ist im Ansatz schon richtig, nur muß man es konsequent zu Ende führen: feste Punkte schaffen, ein System von Bunkern, Befestigungen, Forts in strategischer Verbindung miteinander, ja. Aber – dann darf man nicht darauf warten, daß ein paar Vietminh erscheinen, die man abknallt. Nein, man muß aus diesen festen Punkten heraus offensiv werden! In den Gegner hineinstoßen! Seine Linien durcheinanderbringen, seine Logistik zerschlagen. Verwirrung bei ihm erzeugen, ihn letztlich durch ein System bewaffneter Vorstöße in dem von ihm als sicher betrachteten Gebiet in die Defensive treiben. Das wird meine Strategie sein. Wissen Sie, warum?«
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