Als er beim ersten französischen Außenposten am Schwarzen Fluß ankam, war er nicht nur total erschöpft und halb verhungert gewesen, seine Haut war von Dschungelgeschwüren bedeckt, und widerliche Egel hatten sich an vielen Stellen festgesaugt – Janville konnte sich nur schlecht darauf besinnen, was überhaupt geschehen war. Er gab an, er käme von einer Beerdigung und hätte sich verlaufen.
Einige Wochen vergingen, ehe sich bei ihm Spuren von Erinnerung zeigten, doch auch was Janville dann erzählte, war konfus. Er blieb im Lazarett stationiert, ein Objekt besonderen beruflichen Interesses für die Ärzte dort, die außerdem der Meinung waren, der Mann sei in einem Lazarett der Armee am besten aufgehoben. Im zivilen Leben Frankreichs würde er nur als willkommenes Beispiel für die Verderbnis des Kolonialkrieges benutzt werden. Außerdem hätte er keine Chance, sich durchzubringen. Die nicht gegen den Kolonialkrieg opponierende Hälfte der Franzosen liebte den Helden, nicht den Krüppel.
So galt der ehemals fähige Capitaine als harmloser Idiot, dem jedermann alles verzieh, was er in seinem geistigen Dämmerzustand anstellte. Die Ärzte beobachteten gelegentlich Phasen, in denen er für kurze Zeit ein klares Bewußtsein zu haben schien, aber sie hielten nicht an, wurden auch nicht häufiger.
»Du bist sicher, sie ist in Saigon?« wandte er sich jetzt an den Wachführer. Der atmete erleichtert auf. Es schien, als besänne sich Gaston, als habe sich da just in diesem Augenblick eine Kette klarer Gedanken angekündigt. Am besten, ich schicke ihn schnell weg, solange die Einsicht anhält, dachte er. Deshalb nickte er zustimmend. »Saigon, da mußt du hin, wenn du sie sehen willst. Laß dir von den Kerlen im Lazarett einen Flug besorgen. Wo das ›Arc-en-Ciel‹ ist, sagt dir jedes Kind in Saigon.«
Er schob Janville an der Freitreppe vorbei dem Ausgang des Grundstücks zu. Auf der anderen Straßenseite lag das »Metropole«, Hanois größtes Hotel, bewirtschaftet von Monsieur Louis Blouet, der als vorsichtiger Mann in Paris ebenfalls noch ein Hotel betrieb. Aus dem »Metropole« kamen mehrere hohe Offiziere, vor denen der Wachführer am Fuße der Treppe zu salutieren hatte.
»Geh jetzt!« flüsterte er Gaston zu, der sich auf die Straße zu bewegte. Dann stellte er sich, wie es die Wachordnung vorsah, an der ersten Treppenstufe auf und kommandierte: »Achtung!«
Salan, der elegante Oberbefehlshaber mit den blankgeputzten Generalssternen, dessen Ablösung bevorstand, kam federnd heran, in den Augen das starre Blinken, von dem der Wachführer wußte, daß es vom Opiumgenuß herrührte. Er würde hier auf seinen Nachfolger treffen, den General de Corps d’Armée Henri Navarre, Viersterneretter Indochinas, wie die Witzbolde ihn jetzt schon nannten, obwohl man eigentlich Respekt vor ihm haben mußte. Er war ein Mann mit dem Ruf von Besonnenheit und nüchterner Berechnung. Ob er diese Eigenschaften auch hier unter der sengenden Tropensonne angesichts eines Gegners behielt, der keine der in den französischen Kriegsschulen gelehrten Prinzipien von Strategie und Taktik befolgte?
Brigadier Cogny schob sich leicht hinkend heran, der breitschultrige Zweimetermann, dessen Division die wichtigsten strategischen Punkte im Delta des Roten Flusses besetzt hielt. Dickfellig und jovial, ein Fuchs mit der Gestalt eines Ochsen. Um den neuen Oberkommandierenden gleich an seine Wesensart zu gewöhnen, trug er nicht Gala, sondern den gescheckten Kampfanzug: Dies hier, Hanoi, war ebenso Kriegsgebiet wie jede Straßenkreuzung im Umkreis von hundert Kilometern, also war er, der sich nicht ungern »Chef des Deltas« nennen ließ, im Dienst. Immer, auch auf Empfängen. Er tippte an sein Képi und nickte dem Wachführer zu, als er die Treppe hinaufstieg. Niemand hätte vermutet, daß er den Grad eines Doktors der Rechtswissenschaften besaß.
Im Unterschied zu ihm erschien General Gonzales de Linarès eher zierlich. Er war der militärische Chef aller in Tongking, dem Nordteil Vietnams, operierenden französischen Truppen. Unter der vorgehaltenen Hand wurde er allerdings »Bürgermeister von Gia Lam« genannt, weil er sich jenseits des schlammigen Flusses, am anderen Ende der Daumer-Brücke, das Töchterchen eines chinesischen Beamten zur Geliebten genommen hatte. Deren Vater beteiligte den Galan der Tochter, wie es hieß, an den Einkünften, die er aus schwer zu ermittelnden Quellen kassierte, hauptsächlich aus dem Baugeschäft um den französischen Militärflugplatz, in dem Linarès unauffällig vermittelte. Die kleine, zierliche, stark geschminkte Chinesin brachte den General nur bis zum Eingang des Gouverneurspalastes, weil sie da drinnen nicht erwünscht war. Französische Generale hatten Statusprobleme, wenn es um einheimische Geliebte ging. Das Chinesenmädchen ärgerte sich darüber nicht sonderlich. Für sie war Gonzales de Linarès ein nicht mehr sehr appetitlicher Kolonialfranzose, mit dessen Hilfe die Familie Reichtum erwerben konnte. Sobald sich dieser Reichtum in fünfstelligen Ziffern darstellte, wurde er jeweils umgehend nach Paris transferiert, auf eine sichere Bank. Liebe war hier ein Geschäft, nicht mehr. Der eine gab, der andere zahlte. Freundinnen wußten von der Geliebten des Oberbefehlshabers der Tongking-Truppen, daß er ungeschliffen war, ständig aus dem Mund roch, zu viel soff und während des Geschlechtsverkehrs laut zu furzen pflegte. Nun ja, er würde bald nach Frankreich zurückkehren, aber bis dahin konnte man die mit seiner Bekanntschaft verbundenen Vorteile noch nutzen.
Gerade war Linarès am Wachführer vorbei und in die Halle getreten, da zog Gaston le Fou draußen am eisernen Gittertor, wo die Geliebte des Generals noch neben dem Wagen stand, der sie nach Gia Lam zurückfahren würde, erneut seine Glanznummer ab. Er baute sich vor der Dame auf, die ihm knapp bis zur Brust reichte, und tippte an sein Képi. »Madame, darf ich Sie höflichst bitten, Ihren werten Arsch frei zu machen, damit ich mich überzeugen kann, ob Sie Dung sind?«
Er sagte das in nahezu perfektem Vietnamesisch, und er brachte seinen absurden Wunsch mit einem Ernst vor, der unweigerlich zum Lachen reizte. Auch die Chinesin empfand das so. Sie prustete los, hielt sich dann aber sofort die kleine, manikürte Hand vor den Mund und besann sich.
»Was wollen Sie?«, fragte sie drohend zurück, in leidlichem Französisch, obwohl sie sehr gut verstanden hatte.
Gaston Janville wiederholte sein Anliegen, ernst, in gemessenen Worten, aber so laut, daß es jeder, der sich auf dem Weg zum Palast befand, hörte und sogleich schallend auflachte. Janville schien das nicht zu merken; sein Gesicht blieb unverändert ernst. Die Puppenzüge der Chinesin hingegen verzerrten sich von einer Sekunde auf die andere zu einer haßvollen Maske. Und ihre Stimme kreischte los, daß der Wachführer wie von einer Sumpfschlange gebissen herumfuhr und zum Tor hinaussprintete.
»Aber Madame«, beklagte sich Gaston gerade, »Sie müssen nicht böse mit mir sein. Ich kontrolliere die Ärsche aller Huren in Hanoi, nicht nur den Ihrigen! Es geht um mein Lebensglück! Nur an der Narbe des Affenbisses werde ich Dung wiedererkennen. Sie müssen wissen, wir taten es stets so, daß ich eben diese Narbe die ganze Zeit vor Augen hatte. Sie genoß es am meisten so, Ihr Gesicht – nun, man schminkt es …«
Weiter kam er nicht. Der Lieutenant nahm ihn am Arm und zog ihn resolut beiseite, während er sich zugleich durch eine Handbewegung mit dem Türsteher vor dem »Metropole« verständigte: einen Wagen!
»Gaston!« fuhr er Janville an, »du machst mir Ärger!« Er wußte aus mehrfacher Erfahrung, daß es sinnlos war, dem Capitaine Vorhaltungen zu machen. Nein, lediglich geduldiges Zureden half. Deshalb versicherte er ihm: »Das war sie doch auch nicht, Junge! Die da kenne ich, sie hat einen ganz glatten Hintern, blank wie ein gewienerter Gewehrkolben. Du irrst dich. Und nun mußt du unweigerlich heim, ins Lazarett. Du erregst hier Ärgernis, und du bist doch ein französischer Offizier, oder?«
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