29.
Mit ihrem Streichquartett fährt sie auf Tournee durch ganz Europa. Sie schreibt mir aus Ungarn, aus Belgien, aus den Niederlanden, aus Spanien, aus Portugal, aus Italien, aus der Schweiz. Zwischen den Reisen hat sie ein paar Tage, manchmal auch nur ein paar Stunden frei, um nach Hause zu fahren, um auszupacken, einzupacken, die Noten auszutauschen, zu schauen, ob in ihrer Wohnung alles in Ordnung ist. Sie stopft alles in den Koffer, kommt lieber zu mir. Sie sagt, dass es nicht so schlimm sei, wenn sie zwischen zwei Flügen nicht nach Hause komme, dass sie, um saubere Kleidung zu haben, in der nächsten Stadt neue Sachen kaufen werde. Sie kommt zu jeder Tages- und Nachtzeit, legt ihre dunkelblaue Lederjacke ab, zieht sich aus, wirft sich augenblicklich auf mein Bett, fällt über mich her. Am nächsten Morgen trinkt sie einen Milchkaffee, verschlingt ein Croissant. Sie überprüft ihre Abfahrtszeit, ihre Abflugzeit. Sie zieht sich an. Sie streift die Lederjacke über. Wenn sie geht, ihren Geigenkasten auf dem Rücken, den Koffer in der Hand, umarmt sie mich, vergräbt ihre Nase in meiner Halsbeuge. Sie weint jedes Mal. Zuerst ganz leise, dann immer stärker. Sie krallt sich an mir fest, sie schnieft, sie schluchzt. Ihre Wangen sind mit Mascara beschmiert, ihr ganzes Gesicht mit Rotz. Sie sagt, dass sie dieses Leben nicht mehr führen wolle, dass es keinen Sinn habe, dass sie dableiben wolle, ins Kino gehen, mit mir zu Abend essen, normale Dinge wie im normalen Leben tun. Sie betont das Wort normal. Sie hat auf einmal eine tiefe Stimme, die Stimme des Kummers. Sie streichelt über meine Wange, sie küsst mich ein letztes Mal, hinterlässt eine Mascaraspur auf meinem Blusenkragen, den Geruch nach dunkelblauem Leder auf meinen Handflächen. Und dann ist es wie immer, sie geht.
Sie kommt wieder. Wieder ist es ein Fest. Durchwachte Nächte zum Reden, zum Sichlieben, und wieder von vorne, bis die Vögel singen. Abendessen mit Wein und Zigaretten, zu viel Wein und Zigaretten. Wenn wir uns wiederbegegnen und die Küsse so lange wie möglich hinauszögern, bis sie es nicht mehr aushält, wenn sie in meinen Mund beißt wie in eine Kirsche. Heftig. Gemein.
30.
Sie liebt mich. Da steht es, in venezianischer Tinte. Schwarz auf weiß.
31.
Es ist schön, zu entdecken, dass ihr die gleichen Dinge gefallen wie mir, im Café lesen, japanisch essen, ins Theater gehen, sich in unbekannten Gassen verlaufen, Feste organisieren. Sie wohnt in Les Lilas, am Ende der Linie 11. Sie lacht, als ich ihr erzähle, dass ich eine Spezialistin für die Metrostation République geworden bin, dass ich sprichwörtlich fliege, wenn ich auf dem Weg zu ihr von der Linie 8 in die Linie 11 umsteige, denn eine verpasste Metro, und es kommt mir so vor, als ginge die Welt unter, als wäre der Verlust von drei Minuten unserer gemeinsam verbrachten Zeit unerträglich. Sie lernt meine Tochter kennen, sie taxieren sich zunächst, bevor sie sich gut und schließlich wunderbar verstehen. Sie wacht manchmal vor mir auf, verbringt Zeit mit dem Kind in der Küche, bereitet das Frühstück zu, was mich rührt und amüsiert. Es ist Frühling, das Leben ist angenehm, ich schaue nicht mehr auf die blassen Magnolienblüten, wenn ich aus der Schule komme. Sie erwartet mich in einem vor den Schülern verborgenen Winkel, es ist eine Überraschung. Sie weiß nicht, dass ich nur noch Streichermusik höre, Quartettmusik, dass ich, sobald ich einen Augenblick allein bin, in Endlosschleife die Videos schaue, in denen sie mit ihrem Quartett spielt, dass meine liebsten die sind, in denen sie die erste Geige spielt, in denen sie beim Spielen ihr ganzes Gesicht verzieht und aussieht wie ein Ungeheuer.
32.
Aus einem Medizinbuch. Latenz: zeitweiliges Verborgensein von etwas, das sich jeden Moment durch das Auftauchen von Symptomen manifestieren kann.
33.
Sie hat keine Kinder, sie weiß auch nicht, ob sie welche will. Sie liest äußerst langsam, es kommt vor, dass wochenlang der gleiche Roman auf ihrem Nachttisch liegt. Sie trägt Brille, wenn sie ins Kino geht, wenn sie Auto fährt, manchmal auch, wenn sie ihre Partituren übt. Sie hat zwei Brüder, jünger als sie. Sie hat einen Vater, der ihr den Geschmack an Feierlichkeiten vererbt hat, und eine Mutter, die ihr den Geschmack am Feiern vererbt hat. Sie liebt ihre Familie sehr. Sie ist im sechzehnten Arrondissement aufgewachsen, nicht weit von der Seine entfernt. Sie wählt links, wenn sie wählt.
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