Von dem Gebrüll erwachten die Zwillinge und fuhren hoch.
„Was ist denn los?“ fragte Hasard, der mit einem Satz auf den Beinen war. Philip war ebenfalls blitzschnell aufgesprungen.
„Da!“ rief der Admiral. „Der Satan oder ein Seeungeheuer! Es will mir die Augen auskratzen.“
Im schwachen Widerschein der Deckslaterne erkannte Hasard einen großen Vogel, dessen Oberschnabel gekrümmt war. Aus dem Gefieder des Vogels troff Wasser an Deck. Das Tier schüttelte sich und plierte Old Donegal von der Seite her an.
„Dein Seeungeheuer ist ein Kormoran“, sagte Hasard. „Wahrscheinlich hat ihn das Licht der Laterne angelockt. Seltsam, daß er so weit draußen auf See ist.“
„Ein Kormoran?“ fragte Old Donegal ungläubig. „Dann hat er sich verwandelt. Vorhin hatte er eine andere Gestalt, das weiß ich genau.“
„Kormorane tun das öfter“, murmelte Hasard. Dabei zwinkerte er seinem Bruder zu, der sein Grinsen mühsam verbarg.
Er näherte sich dem Vogel, der ruhig sitzenblieb, ihn aber etwas furchtsam anblickte. Philip drehte den Docht der Laterne etwas höher, um das Tier besser sehen zu können.
Es war tatsächlich ein Kormoran mit den typischen Watschelfüßen und dem stark gekrümmten Oberschnabel. An den Stirnseiten des Kopfes hatte er weiße Flecken.
Old Donegal betrachtete ihn mehr als mißtrauisch. Er glaubte sicher zu sein, daß der Vogel vorhin eine andere Gestalt gehabt hatte. Aber die Zwillinge wollten das natürlich nicht wahrhaben.
Als Hasard den Vogel vorsichtig berührte, öffnete der nur warnend den großen Schnabel, biß aber nicht zu. Nach einer Weile ließ er sich sogar streicheln.
Old Donegal stand inzwischen wieder an der Pinne und korrigierte den kleinen Schlenker, der sie etwas vom Kurs gebracht hatte. Ganz geheuer war ihm der nächtliche Besuch jedoch nicht.
„Wie schmecken Kormorane eigentlich?“ fragte er. „Der würde doch einen schönen Braten abgeben.“
„Die schmecken tranig, wie uralte Fische“, sagte Hasard. „Außerdem bringt es Unglück über ein Schiff, wenn man einen Kormoran abmurkst.“
Für Old Donegal war das Thema damit augenblicklich erledigt. Unglück wollte er sich nicht unbedingt einhandeln. Sie waren in letzter Zeit sowieso nicht gerade vom Glück begünstigt.
„So, so, Unglück bringt das. Na, dann lassen wir ihn eben in Ruhe.“
Der große Vogel war sichtlich erschöpft und wollte sich vermutlich nur eine Weile ausruhen.
Sie ließen ihn in Ruhe, wie Old Donegal gesagt hatte.
Hasard übernahm nach einer Weile die Pinne, während der Admiral noch etwas unschlüssig an Deck stand.
„Willst du dich nicht ein bißchen aufs Ohr legen, Sir?“ fragte Philip. „Du kannst dich jetzt ausruhen. Hasard und ich übernehmen bis zum Morgen.“
„Ich dachte eigentlich noch an einen kleinen Schlummertrunk. Auf den Schreck hin natürlich. Solche unerwarteten Gäste hat man ja nur sehr selten an Bord.“
„Dagegen ist nichts einzuwenden. Zur Stärkung für den Rest der Nacht könnten wir auch einen kleinen vertragen.“
Old Donegal holte die unvermeidliche Buddel und hielt sie den Zwillingen hin.
„Aber nur einen kleinen Schluck für den Rudergänger. Zur Kräftigung.“
Die kleinen Schlucke arteten nie in eine Sauferei aus. Old Donegal betrachtete das eher als Medizin, die Geist und Körper wachhielt, wenn man sie mäßig genoß. Und sie genossen sie auch nur mäßig, was so viel hieß, daß jeder nur einen kleinen Schluck nahm.
Er aber nahm drei kräftige Schlucke, weil er ja seinen Schlummertrunk brauchte und nicht mehr am Ruder stand, jedenfalls nicht vor dem Morgengrauen.
Eine halbe Stunde später ging er nach unten. Er wollte zuerst an Deck schlafen, aber da fand er keine Ruhe, weil er meinte, der Kormoran blinzele ihm dauernd zu und beobachtete ihn.
In der Frühe des nächsten Morgens, als noch kurze Dämmerung herrschte, erschien Old Donegal frisch und ausgeruht wieder an Deck. Er wünschte seinen Enkeln einen guten Morgen. Da sah er, daß der Kormoran zusammenschrak, die Flügel ausbreitete und davonflog.
„Der kann mich wohl nicht leiden“, brummte er. „Kaum sieht er mich, da haut er auch schon ab.“
„Er war bereits seit ein paar Stunden unruhig und watschelte auf dem Handlauf hin und her“, berichtete Hasard. „Er fliegt auch seltsamerweise nicht zum Land hin, sondern nimmt Kurs auf See. Das ist schon seltsam.“
Der Kormoran vollführte einen Schlenker nach dem anderen in der Luft, als könne er sich über sein Ziel nicht schlüssig werden. Dann drehte er nach Südwesten ab und entschwand langsam ihren Blicken.
Als die Sonne aufging, war die Kimm dunstig und in feine neblige Schleier gehüllt. Der Sonnenball tauchte scheinbar aus der See und war erst orangerot. Dann wurde er zusehends fahler und verblaßte.
Mit dem Farbenspiel nahm auch gleichzeitig der Wind ab. Er wehte nur noch schwach.
„Das Vieh war ein Unglücksbringer, sage ich euch“, erklärte Old Donegal sinnend. „Oder er hat uns etwas verkünden wollen. Wenn ein Vogel an Bord erscheint und dann auch noch nachts, bedeutet das nichts Gutes. Ich weiß diese Zeichen zu deuten.“
„Sturm?“ fragte Philip sachlich.
Old Donegal schüttelte bedächtig den Kopf. „Nein, diesmal ist es was anderes, kein Sturm.“
„Dann bliebe noch ein Seebeben oder ganz einfach ein Unwetter“, meinte Philip. „Oder der Holzbohrwurm frißt unser Schiff auf.“
Der Admiral starrte auf die rostfarbenen Segeln der Karavelle. Sie blähten sich noch, aber nicht mehr so stark wie zuvor. Auch die Bugwelle war merklich kleiner geworden. Es war ein schmaler Bart, der an beiden Seiten des Rumpfes vorbeigluckerte und achteraus ein schmales Kielwasser bildete.
„Grinst euch nur eins“, sagte er mit einem kurzen Auflachen. „Ich bin sicher, daß es euch noch vergehen wird. Wir sollten darüber aber das Frühstück nicht vergessen.“
Hasard und Philip warfen sich einen Blick zu. Philip nickte schließlich und ging in die kleine Pantry.
Um sie her war es auf eine merkwürdige Art still. Die täglichen Geräusche, die sie seit Jahren gewöhnt waren, hörten sie kaum noch, wie das Knarren von Blöcken oder das Flüstern in den Segeln. Auch das leise Raunen und Gurgeln von vorbeiströmendem Wasser gehörte dazu.
Jetzt waren diese Geräusche überdeutlich zu hören.
„So wie heute ist mir das noch nie aufgefallen“, sagte Old Donegal. „Geht dir das auch so?“
„Meinst du die Geräusche?“
„Ja, sie erscheinen mir überlaut.“
„Stimmt“, sagte Hasard. „Die ganze Welt scheint nur aus diesen Geräuschen zu bestehen.“
Old Donegal legte den Kopf schief und schien in sich hineinzuhorchen. Er hatte ein unglaubliches scharfes Gehör.
„Da ist noch etwas – ein – ein Summen oder so ähnlich. Aber es muß sehr weit entfernt sein.“
Hasard hörte kein Summen, so sehr er sich auch anstrengte.
Old Donegal definierte es ein bißchen genauer. „Klingt wie eine riesige Säge mit stumpfen Zähnen. Ich habe das Geräusch deutlich in den Ohren.“
„Dann muß es aber sehr weit weg sein, Granddad. Wie weit schätzt du, sind wir vom Land entfernt?“
„Das ist schwer zu sagen. Wir haben nur sehr bescheidenes und ungenaues Kartenmaterial. Aber ein paar hundert Meilen dürften es zum Norden hin schon sein. Auf unserem jetzigen Kurs werden wir voraussichtlich in den nördlichen Teil der indischen Westküste gelangen. Mit etwas Glück könnten wir sogar Surat anliegen. Verfehlen wir es, dann erkundigen wir uns einfach. Ist doch keine Schande, wenn man sich mal um ein paar Meilen verhaut. An uns liegt es nicht, nur an den fehlenden Unterlagen.“
„Dieses Summen kann aber kaum vom Land stammen“, begann Hasard wieder. „Ich höre es immer noch nicht. Vielleicht bildest du dir das nur ein?“
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