Die Luft, die Augen der Menschen, das nervöse Zucken ihrer Körper, die brummenden Automobile – alles war beherrscht von einem einzigen Wort:
Pa-nik!
Wir waren am Bahnhof. Durchgeschwitzt, atemlos. Wir sanken mit unseren Bündeln und Koffern auf die Eingangstreppe. Ein paar Schauspieler. Später fand sich ein Chirurg mit einigen Universitätsprofessoren ein. Um uns herum, in der bereits drückenden Sonne, keuchten Hunderte Niedergesunkener. Hunderte aufgesperrter Münder schnappten nach der staubigen Luft. Einige schienen zu lächeln. Lächelnde Zähne. Gesichter gequälter Tiere, die Augen unruhig, suchend. Wann werden wir auf den Bahnsteig gelassen? Wann in den Zug? Hunderte Menschen, hinter ihren Klamotten verbarrikadiert, verpackt in verschiedenfarbigen Bündeln und Koffern. Und du gehst vorüber – und mancher Blick wird dich zwingen wegzusehen, und dann wird er sich dir in Nacken und Rücken bohren.
»Hier sind meine vier Sachen. Eins, zwei, drei, vier. Ja, das ist alles, Gott sei Dank! Nicht das, das ist meins! Vier Sachen, hörst du! Eins, zwei …«
Ein Halbwüchsiger verkauft Zigaretten. Viermal so teuer wie gestern. Wir kauften Zigaretten, rauchten, bis uns schlecht wurde. Wir versuchten zu essen, nur ein bisschen, ein Stück Brot, ein Stück Speck. Es ging nicht runter. Plötzlich verbreitete sich Gelächter auf dem Platz. Siebzehnjähriges Gelächter. Ein junges Mädchen lachte aus voller Kehle. Ein Tuch um den Kopf, ein halbleeres Aktentäschchen in der Hand, ein Leberfleck auf der linken Wange. Sind die beiden jungen Männer, ihre Begleiter, so witzig? Oder genügt allein ihre Jugend, dass sich das Gelächter auf dem ganzen Platz ausbreitet? Die Leute, die sich auf die Bündel fallengelassen hatten, wandten wie auf Kommando die Köpfe, aber nur kurz. Das Gelächter war verletzend. Jetzt?! Nur kurz hatten sich die Köpfe umgewandt, und der noch ungeborene Trost verlosch wie ein Strohfeuer. Eine Sache, die wirklicher war …
»Das sind meine, hörst du! Drei, vier …«
Ein Bekannter kam. Der Bekannte hatte es gesehen. In der Chopinstraße. Am Molkereigeschäft und weiter, wie ausgestreut, fünf männliche Leichen. In eleganter Kleidung. Es hatte einen Wortwechsel gegeben und ein kurzes Feuergefecht. Die, die geschossen hatten, trugen deutsche Uniformen und hatten Maschinenpistolen. Die Pistolen der eleganten Leichen waren keine automatischen, sie schossen langsamer. Die Leichen waren stumm, wie üblich, und die Menschen konnten nur rätseln:
»Partisanen? Banditen?«
Ein Mann, an einen kleinen Eisenzaun gelehnt, sagte laut:
»Die Anarchie fängt an. Es wird noch schlimmer.«
Die Augen ringsum warteten. Was wird schlimmer? Die Augen erwarteten konkrete Kleinigkeiten. Was, wen und wie? Aber der Mann wusste es selbst nicht. Wusste nicht, was er den wartenden Augen noch sagen sollte, und schämte sich. Er wühlte in einem abgewetzten Rucksack. Doch die Nachricht verbreitete sich schnell, sie wurde gierig aufgenommen.
»In der Stadt herrscht Anarchie. Auf den Straßen liegen Tote. Es wurde aus den Fenstern geschossen. Die Partisanen wüten. Am Abend gibt es noch mehr Leichen. Es gibt keine Ordnung. Anarchie.«
Die Menschen sind nicht mehr niedergesunken. Wellen schweißüberströmter Gesichter und verschiedenfarbiger Bündel. Eine Welle sickert ins Innere des Bahnhofs, an den schmalen Türen, hinter denen die Dampfloks, die Waggons und die Felder sind. Aber an den engen Türen stehen breitschultrige Gendarmen mit eisernen Schildern auf der Brust und verwehren den Einlass. Trotzdem werden die Wellen kleiner. Sie sickern durch die Umzäunungen. Einer klettert über den Zaun. Einer geht außen herum. Auch durch die engen Türen kommen sie unbemerkt. Der Chirurg hat eine Flasche mit Spiritus und spricht gut Deutsch. Der Chirurg wagt es, mit dem eisernen Schild zu verhandeln. Das Schild schreit etwas von Ordnung, gibt aber schnell nach, und die Freiheit, hindurchgehen zu dürfen, wird eilig gegen die Flasche mit der klaren Flüssigkeit eingetauscht.
Wir saßen auf dem Bahnsteig. Es kam kein Zug. Wieder rauchten wir bis uns schlecht war, tranken warmes, graues Wasser, warteten. Die Stunden schleppten sich träge dahin. Lange, lange bewegen sich die Zeiger der Uhr vom Elektrizitätswerk nicht, bis sie plötzlich springen und sich wieder beruhigen. Fünf Minuten vergingen. Die Anspannung ließ nach. Zuerst gähnten die Menschen auf den Bündeln ein langes, erstarrtes Gähnen. Ein Gähnen wie die Reglosigkeit des Uhrzeigers. Dann schlummerten viele ein. Die anderen schwiegen. Einzelne Worte platzten heraus, blieben ohne Antwort. Sie unterstrichen die schläfrige Mittagsstille. Es war, als würde der Zug aus dem bedrohlichen Osten niemals kommen. Als würden die auf ihren Bündeln Zusammengesunkenen nie mehr aufwachen. Sie würden schlafen, eingeschnürt in die Mittagsstille wie Mumien. Und die Sonne würde hier stehenbleiben, über diesem grauen Häuschen mit den weißen Fensterläden. Und der Uhrzeiger würde auf zwanzig nach zwei zeigen, nur noch auf zwanzig nach zwei. Und dieser vierjährige Junge da zwirbelt ständig die Schnur seines Rucksacks, immer rechts herum, rechts herum …
Die Mittagsstille – ein Albtraum, der nicht weicht. Und …
Die Bündel …
Die weißen Fensterläden …
Der Uhrzeiger …
Die Schnur, immer rechts herum, rechts … – ich schlummerte.
Doch dann kam der Zug. Um fünf Uhr nachmittags. Ein Militärzug. Der Bahnsteig ruckte. Ein fernes Grollen zerstreute den Schlummer. Schwere, gerötete Lider rissen auf, und wieder übermannte der quälende, bohrende Gedanke den Bahnhof.
»Raus aus der Stadt, fort, nur fort …«
Über den Bahnsteig ergoss sich ein Trupp von Blitzmädeln . Ach, wo ist das schwungvolle Stolzieren auf den Straßen von Vilnius geblieben? Noch vor kurzem waren die Töchter des auserwählten Volkes auf den Gehwegen spaziert. Uns Parias haben sie nicht gesehen, man musste höflich zur Seite springen, die graue Kleidung ging geradeaus. Ein menschliches Hindernis hatte sich zu verziehen, die graue Kleidung glitt wie ein Panzer. Nur geradeaus. Jetzt waren uns die Blitzmädel so ähnlich. Sie schleppten Bündel wie wir, ihre Kleidung war zerknittert. Auch ihre Achseln waren genauso schweißgetränkt wie unsere, und in ihren Augen der gemeinsame quälende, bohrende Gedanke.
»Fort, nur fort …«
Am Ende des Zugs zwei Waggons für zivile Deutsche! Wir stürzten hin. Vielleicht irgendwie, irgendwo in einem Eckchen, wir brauchen nicht viel Platz, wir machen uns ganz klein, winzig! Man ließ uns nicht. Der Bahnhofskommandant erklärte betont ruhig:
»Kein Grund zur Beunruhigung. In zwei Tagen wird es Sonderzüge für die Bevölkerung geben. Das ist ein Militärzug, der ist verboten. Gehen Sie nach Hause und essen Sie in Ruhe zu Abend. Schneiden Sie sich eine Scheibe Speck und streichen Sie die Butter dick aufs Brot.«
Das Gesicht des Offiziers war intelligent. Sauber, hohe Stirn, blitzende Brille. Die letzten Sätze rochen nach Ironie. Und kaum spürbarer Panik. Da tauchte zufällig im Wortwechsel ein gemeinsamer Bekannter des Bahnhofskommandanten und eines der Professoren auf. Ein Bekannter, den beide verehrten. Und der Offizier stieg vom Podest.
»Steigen Sie ein, wo Platz ist.«
Wir waren ein paar Dutzend Erwählter. Wir stürzten zu den vollgestopften Waggons. Plötzlich hatten wir einander vergessen. Die einen drängten sich ins Innere, andere landeten im Gepäckwagen. Der Schaffner pfiff. Ich allein stand auf der Erde. Für mich war kein Platz mehr. Einige Jugendliche hatten sich auf die Puffer geschwungen und an die schmalen Brettchen zwischen den Waggons gehängt.
O wie schnell ich an das Dach kam, mit welch zirkushafter Behändigkeit ich meine Koffer festschnürte! Ich hing fast in der Luft, meine Beine baumelten über den Puffern, meine Hände krallten sich in das Dach. Endlich war ich ein Erwählter. Der Zug ruckte an. Ich fuhr. Die auf den Bündeln zurückgebliebenen Leute schauten böse, neidisch. Aber sie verschwanden sofort. Sie und der Bahnsteig, und Vilnius.
Читать дальше