»Vermutlich werden Sie mich nicht verstehen und sich über das wundern, was Sie jetzt hören. Aber das ist mir egal. Ich kann es nicht länger ertragen. Ich kann mit dieser Benommenheit nicht leben. Angst, Angst und noch mal Angst. Sonst nichts.« Seine Pupillen wurden noch weiter. In ihnen stand Schrecken. »Hören Sie! Damals, in dem Café und im Kino, habe ich gesehen, dass Sie mich mit Mitgefühl betrachten. Die anderen Menschen sind so kalt, so egoistisch. Vielleicht sind Sie ja imstande, mich zu verstehen. Ich quäle mich schon seit zwei Jahren so. Früher war ich nicht anders als alle Menschen. Doch dann begann mich diese Angst zu verfolgen. Warum, das weiß ich nicht. Mir scheint, ich habe nichts Besonderes erlebt. Aber ich fühle, dass die Angst mich auf Schritt und Tritt verfolgt. Sie taucht plötzlich auf, wenn ich sie überhaupt nicht erwarte. Ganz gleich, ob ich allein oder in Gesellschaft bin. Ich laufe vor ihr davon, dorthin, wo viele Menschen sind und Lärm. Anfangs ging es mir dann besser. Inzwischen findet sie mich aber auch dort. Ich fühle, wie sie sich mir nähert, ihre unbezwingbare Macht … Der Schrecken hat in meiner Seele die Oberhand gewonnen. Menschen, Häuser – alles verschwindet in einem Dunst. Und er wird immer größer, der Schrecken. Meine ganze Seele zittert vor dieser unverständlichen Angst. Ich laufe davon – ich weiß selbst nicht wohin. Ich kann ihr nicht entfliehen. Ich habe verschiedene Ärzte aufgesucht. ›Ihre Nerven sind geschwächt. Sie müssen sich erholen, ans Meer fahren …‹, sagen sie meistens. Aber ich weiß, dass ich diese Angst selbst am stillsten Ort der Welt nicht abschütteln könnte.« Er stöhnte. Er tat mir leid. »Beruhigen Sie sich, ich habe etwas Ähnliches erlebt«, sagte ich, weil ich ihn beschwichtigen wollte. »Ja? Dann werden Sie mich verstehen! Wissen Sie, ich kann niemals ruhig einschlafen. Wenn ich mich ins Bett lege, fühle ich, dass sie mich belauert. Ich verkrieche mich unter der Decke und habe Angst, ins Dunkel meines Zimmers zu schauen. Mir kommt es so vor, als würde ich, wenn ich in die Tiefe des Zimmers blickte, etwas unvorstellbar Schreckliches zu Gesicht bekommen. Es vergehen eine, zwei, drei Stunden, und ich liege da mit der Angst im Herzen, bis ich endlich einschlafe. Und so geht es jede Nacht. Jeden Tag. Wird das jemals aufhören?!« Er sprang von der Bank auf, packte mich an den Schultern und sah mir mit stechendem Blick in die Augen. Ich stand auf. Etwa zwei Sekunden lang schauten wir einander an. Dann ließ er mich los, murmelte irgendetwas in sich hinein und verschwand in der Abenddämmerung.
Ich habe ihn nie wieder gesehen.
[1929]
Heimweh ist eine chronische Krankheit. Thüringens blaue Wälder können sie nicht heilen. In Friedenszeiten würdest du vielleicht zwischen den hochstämmigen Kiefern umherwandern, sacht die rötlichen Felsbrocken berühren und mit weiten Lungen die Luft, die wunderbare Luft des atmenden Waldes einsaugen. Und dann würdest du dich im Moos ausstrecken, und aus den kleinen Gräsern würden auf einmal gewaltige märchenhafte Dschungel wachsen, in denen es keine Wege gibt, wo eine üppige, kämpfende Pflanzenwelt wächst, die Kiefernzapfen seltsam gemaserte Felsen sind und die Ameisen längst ausgestorbene, vorsintflutliche Tiere. Und wenn es ein bisschen ungemütlich, wenn es gar zu unfreundlich würde, würdest du aufspringen, auf einen rötlichen Fels klettern, und unten, dir zu Füßen, würden Thüringens Wälder flimmern in der diesigen Luft, als lägen sie hinter großen, klaren Ozeanen. In Friedenszeiten vielleicht … Aber jetzt … Ach, Heimweh – chronische Krankheit! Finster, so finster die hochstämmigen Kiefern, und die Tannen werfen kalte Schatten auf die Erde, und die steinigen Abhänge sind unüberwindliche Hürden: Und wenn du dir die Fäuste wundschlägst an den Steinen, und wenn du noch so sehr schreist, das Echo wird dir den vielfachen Schrei in den Mund stopfen und … – du wirst dich nicht durchschlagen, wirst dich nicht durchzwängen, du wirst nicht zurückkehren. Dann wird dir, wie Wasser einem Verdurstenden in der Sahara eine Fata Morgana erscheinen.
Vilnius … Türme … Türme und Kreuze. Kreuze wie warnende Zeigefinger. »Hier ist unsere Stadt. Sie gehört uns, den Türmen und Kreuzen. Rührt sie nicht an!« Die engen Gassen dort und die alten Häuserblocks, geheimnisvoll wie kleine Städtchen, sind in eine einzigartige Atmosphäre des Gestern gehüllt.
Für euch ist es das Gestern, für uns sind es unwiederbringlich verlorene Jahrhunderte. Irgendwo, in den größeren Straßen, versuchen Automobile, Radioapparate und die dreiste gehaltlose Sprache des heutigen Menschen, die Gegenwart auszurufen. Hier aber können Schreihälse und Hohlköpfe nicht hinein. Hier sind die Türme und Kreuze, hier sind die Schriftrollen auf den Reliefs, hier sind die mächtigen, kühnen, stummen Häupter der Großen mit ihren toten gemeißelten Augen – körperlose Häupter, die unter grünen Kupferdächern hängen, hier sind die muskulösen Nackten, ihre vom Regen rissigen Rücken beladen mit Steingebirgen, hier sind die vergessenen Heiligen in den dunklen, nicht mehr besuchten Kirchen, die Heiligen mit den drohenden, unerbittlichen Gesichtern, in deren tiefen Falten dieselben unauslöschlichen Worte eingeschrieben sind: »Der Tag des Zorns wird kommen. Er wird kommen. Wir wissen es. Wir warten. Dies irae, der einzige, der wichtigste Tag in deinem Leben!« Hier ist viel Elend von einst. Deshalb kommen Schreihälse und Hohlköpfe schwerlich hierher.
In den Ausläufern der labyrinthischen Gassen, in den Höfen mit mehreren Ausgängen durch gedrungene Torbögen und zwischen den von kapriziösen Architekten gebauten Häusern war es so leicht, so unausweichlich, sich mutwillig zu verirren und stundenlang herumzuwandern. Herumzuwandern und zu lauschen. Zu lauschen und versuchen zu verstehen. Vielleicht verschenkt ja dieser gebeugte Riese mit dem rissigen, bröckelnden Rücken ein vergessenes Geheimnis, vielleicht wird sich in jenen barocken Girlanden aus Blumen und Blättern eine Prophezeiung erfüllen, vielleicht wirst du in der kalten, trüben, in ihrer ewigen Stille furchterregenden Kirche nach langem Warten endlich sehen, wie der schreckliche Heilige vom Sockel steigt und mit schweren, steinernen Schritten das Gewölbe erschüttert wie der Komtur im Don Giovanni, und dir gleich einen zentnerschweren Schmetterling auf die Schultern legen und ein Wort aussprechen, ein bedrückendes Wort, das die schwarzen Gewölbe erbeben und die verrostete Orgel Töne der Vergeltung posaunen lässt. So leicht, so unvermeidlich war es, sich im alten Vilnius zu verirren.
3. Juli 1944. Die Stadt war zeitig erwacht. Die Türme und Kreuze ruderten noch schlank und ruhig in den ersten Sonnenstrahlen, aber zu ihren Füßen eilten schon die Menschen, mit Bündeln und Koffern beladen, waren Straße und Gehweg nicht mehr zu unterscheiden.
»Raus aus der Stadt, fort, nur fort …« – der einzige, drängende, treibende Gedanke in ihren Augen. Und die blitzenden Automobile, die gestern noch langsam und feierlich wie Eroberer durch die Straßen geglitten waren, zogen heute früh in scharfen Kurven davon.
»Raus, fort aus der Stadt …«
Bekannte begegneten sich und sprangen auseinander. Eilig, nicht stehenbleiben, die Zeit ist kostbar. Der Gruß rutschte tonlos oder kehlig heraus, fremd. »Gut …« – mehr nicht. Schon standen die altertümlichen Häuser fremd da, mit eingeschlagenen Fenstern. Schon ließen sich die Schriftrollen auf den Reliefs nicht mehr entziffern, und die Sphinx-Köpfe der Großen – mochte man noch so flehen – würden die gespitzten steinernen Lippen nicht öffnen. Aber wer konnte das wissen? Vielleicht waren sie so furchtbar gefasst, weil der Tod bevorstand. Vielleicht wussten sie es schon. Vielleicht würde bald eine Fliegerbombe oder ein Artilleriegeschoss ihr jahrhundertealtes Leben zerschmettern. Splitter würden auf den Gehsteigen verstreut, und mit gekreuzten Armen würden langsam, schwer und endgültig die unerbittlichen Heiligen aus ihren staubigen Nischen stürzen. Aber wer weiß, ob die in ihre tiefen Falten eingeschriebenen unauslöschlichen Worte verschwinden würden: »Der Tag des Zorns wird kommen. Er wird kommen! Wir wissen es. Dies irae, die einzige, die wichtigste Stunde deines Lebens!«
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