Doch das ist zu schön gedacht. Leider. Immer mehr macht sich der Schlendrian breit. Müllmänner aus der ganzen Republik klagen über verschmierte Joghurtbecherdeckel im Papiermüll, Essensreste, ja und sogar echte Tierleichen im Gelben Sack. »Wenn wir so weiter machen, fallen wir zurück in die Steinzeit der 60er- und 70er-Jahre«, sagt ein Sprecher der Stadtwerke München. Die Bundesregierung will jetzt handeln. Müllsünder sollen ab heute stärker bestraft und vor allem strenger kontrolliert werden. Die Mülldetektive sind unterwegs und sie verhängen saftige Ordnungsgelder, damit uns in Zukunft nicht die Vergangenheit einholt.
Birne schüttelte seinen Kopf und spülte.
Sein erster Akt im Büro war der Gang mit der Schokolade zum Chef. Der hatte kaum aufgeblickt, einen dunkelblauen Anzug angehabt, »Guten Morgen« und »Das ist nett, stellen Sie es dorthin« gesagt und nicht mehr gesprochen vom Vorfall.
Birne war heute fleißig und eifrig, wollte ihnen zeigen, dass das gestern eine Ausnahme war und am Bier von vorgestern gelegen hatte. Heute zeigte er es ihnen richtig.
Erst gegen 11 Uhr wurde er ein bisschen müde und wäre eingenickt, wenn er sich nicht zerstreut hätte. Er besuchte eine Video-Seite im Internet, schaute sich eine Heavy-Metal-Band an, die ihm in der Früh im Feuilleton seiner Zeitung anlässlich ihrer neuen Platte empfohlen worden war und stolperte dabei auf ein paar Jungs, die sich selbst mit dem Handy gefilmt hatten, wie sie sich Zigaretten auf dem Arm ausdrücken zur Musik eben jener Band. Das sah ziemlich brutal aus. Birne zwang sich hinzuschauen. Denen war es gelungen, ohne viel Aufwand einen Ekel in Birne zu erzeugen. Im Prinzip war er gegen so was, irgendwie reizte es ihn aber auch, weil es ihn immer reizte, wenn jemand in der Lage war, etwas in ihm auszulösen. Von den Machern dieses Videos gab es noch andere, auf denen zum Beispiel zu sehen war, wie sie sich aus zwei Metern Höhe in eine Hecke stürzten und auch gegenseitig warfen. Dann Nahaufnahmen der Kratzwunden, ganz nah dran und wirklich böse. Die stellten Jackass nach, jene MTV-Sendung, in der sich professionelle Stuntmen die übelsten Sachen antaten. Gut inszeniert, fand Birne, so gut, dass die Deppen hier meinten, es sei echt und sich wirklich Schmerzen zufügten. Birne schnaufte einmal vor seinem nächsten Gedanken und schaute sich dann den Clip noch mal an, sehr genau: Was wäre, wenn das auch nur inszeniert war? Dann hätten sie ihn ebenfalls erwischt. Er hatte das geglaubt. Man konnte es nicht erkennen. Es sah echt aus. Es war ein pixliger Video-Clip. Birne fand es schlimm beim Anschauen, aber nur unter der Bedingung, dass es echt war. Aber ob es echt war, konnte er nicht wissen. Die Zeit hier vor dem Computer verging. Zeit, die vor dem Computer vergeht, ist eigenartig verlorene Zeit, diese Zeit verloren die Menschen vor 1000 Jahren nicht. Die starben zwar im Schnitt früher, hatten aber im Vergleich mehr erlebt.
»Was ist? Korbinian?«, fragte Werner kurz nach 12.
»Gerne«, antwortete Birne. »Muss nur noch das fertig machen.«
»Alles klar, kommst dann halt rüber«, sagte der Kollege, der ihn abends mit auf die Jagd nehmen würde.
Tim war in München, die Praktikantin dabei, Sigrid still an ihrem Platz an diesem Tag. Der Chef wollte nicht mit zum Essen, hatte wohl ein bisschen Respekt vor Birne bekommen. Hihi.
Um 16.30 Uhr machten sie Feierabend, Birne wollte noch mal heim, sich was Anständiges anziehen, Werner würde ihn abholen gegen 18.30 Uhr, bei Einbruch der Dämmerung, sie würden ansitzen und anschließend dürfte Birne mit in die Wirtschaft. Er war stolz wie ein Schulbub, er hatte so schnell Anschluss gefunden.
Nebel zog auf, während er heimging.
»Die wollen mich auch noch verhören«, erzählte Birne später im Jägerstand Werner. »Jetzt waren die natürlich noch sehr beschäftigt mit Spurensicherung und so weiter. Da konnte ich ihnen nicht so helfen. Aber sie kommen in den nächsten Tagen auf mich zu. Ich habe ihnen auch die Nummer vom Geschäft gegeben, nicht dass du dich dann wunderst, wenn die Polizei mal anruft.«
»Schon logisch. Hast du etwas mitbekommen, ein Blut gesehen oder so?«
»Nein, nein, das ist alles in der Wohnung passiert, da lassen die jetzt natürlich keinen mehr reinschauen; ein paar Informationen, die sie dort sammeln, dürfen nicht an die Öffentlichkeit, bevor der Mörder weggesperrt ist. Beim Verhör zum Beispiel verrät der sich, indem er ein Detail abstreitet, das er gar nicht wissen kann.«
»So?«
»Freilich.«
»Hast du die Frau gekannt?«
»Nur, dass sie einen Enkel hat und Frau Zulauf heißt – hieß natürlich, ich bin noch ganz drin in der Normalität.«
»Einen Enkel? Hat sie dann ein Geld auch gehabt?«
»Ein Geld? Das kann natürlich sein. Das würde einiges erklären.«
»Ich hab es vorhin im Radio gehört und noch gedacht: da schau her, ein Mord. Und das bei uns.«
»Und ich komm heim und denk nichts Böses, hab ja erst daheim ein Radio und kann erst dann davon erfahren, seh aber zuvor schon die Sonderkommission im Treppenhaus und eine Aufregung, das heißt, Aufregung gab es gar keine, die haben halt ihren Job gemacht, so wie wir unseren, obwohl unserer nicht so blutig ist.«
»Jeden Tag haben die das auch nicht.«
»Nein, nein, auf keinen Fall, sonst kannst du dir statistisch ausrechnen, wann mal einer von uns fällig ist.«
»Das wär ja noch netter.«
»Ich bin erst drei Tage hier, woher soll ich denn einen Feind haben?« Birne verschluckte sich fast an den letzten Worten seines letzten Satzes, weil er an seinen Chef und dessen letzte Worte am Tag zuvor dachte. Aber: Konnte jemand wegen eines Anzugs morden? Es lag in der Natur des Mörders, und wenn er dazu bestimmt war, einem anderen das Messer reinzujagen, würde er es früher oder später machen, der Anlass könnte plötzlich ein ganz ein nichtiger sein. Und saßen sie nicht gerade hier, waren dabei, einem Tier das Leben rauszuschießen? Waren sie besser? Steckte etwas Dunkles in ihnen? Birne hatte noch nie geschossen, Birne war noch nie dabei gewesen, als geschossen wurde. Aber was würde passieren, wenn der erste Schuss gefallen war?
»Haben sie Fingerabdrücke genommen?« Werner kam ihm auf einmal wie besessen von dem Fall vor.
»Sah so aus.« Birne fühlte sich von Ekel übermannt. Er wollte jetzt keine Füchse mehr töten. Er wollte weit weg sein von jedem Töten, das hatte er heute schon gehabt, als er nach Hause gekommen war. Da hatten sie die arme Frau Zulauf in ihrer eigenen Wohnung abgestochen wie eine Sau und in ihrem eigenen Blut gefunden. Birne hatte eine Weile herumstehen müssen, bis er von den Beamten die Wahrheit erfahren hatte. Die hatten ihn zunächst für einen Schaulustigen gehalten und ihn weghaben wollen, dann hatte er ihnen aber verraten, dass er hier wohnte und der Frau geholfen hatte und jetzt auch ihnen zur Verfügung stünde. Sie hatten genickt und ihn immer noch weghaben wollen, allerdings jetzt mit dem Versprechen, auf ihn zurückzugreifen. Er würde noch wichtig sein.
»Du, jetzt pass auf«, sagte Werner. »Ich zeig dir jetzt was, das ist in Deutschland verboten, das darfst du nicht überall rumerzählen, wo du hinkommst, nicht einmal einer Frau, wenn du mal wieder eine haben solltest.«
»Ehrensache.«
Werner öffnete seinen Rucksack schwerfällig und suchte darin herum. Schließlich holte er eine kleine Schachtel heraus, die ein eigenartiges Rohr enthielt. Das schraubte er ebenfalls umständlich auf seinem Gewehr fest.
»Weißt du, was das ist?«
»Keine Ahnung.«
»Jetzt pass auf.«
Werner drückte einen Knopf und hielt das Gewehr aus dem Loch hinaus. Die ganze Wiese war in ein giftgrünes Licht getaucht. »Was sagst du jetzt?«
»Nichts. Was ist das?«
»Nachtsichtlicht, das ist in Deutschland verboten.«
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