Sigmund Freud - Unglaube auf der Akropolis

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Erstmals aus dem Nachlass veröffentlicht: der Urtext eines wichtigen Essays von Sigmund Freud.
Sigmund Freud beendete im Januar 1936 einen Essay für die geplante Festschrift zum 70. Geburtstag von Romain Rolland. Dieser Essay wurde ein Jahr danach im «Psychoanalytischen Almanach» veröffentlicht. Von diesem Text existiert eine zweite, ihrem Umfang nach erweiterte, bisher unveröffentlichte Fassung, die unter dem Titel «Unglaube auf der Akropolis» aus dem Nachlass gehoben, nun erstmals veröffentlicht wird. Darin erinnert sich Freud an die im Spätsommer 1904 mit seinem Bruder Alexander in Athen besuchte Akropolis und an die ihm nicht erklärlichen Entfremdungsgefühle, die ihn mitten in den bewunderten Ruinen überfallen hatten. Am Ziel seiner Reise mochte er nicht so recht glauben, es wirklich bis zur Akropolis geschafft zu haben – als einer, dessen Vater mit ehrlicher Arbeit es nie so weit gebracht hatte wie seine von Triest nach Griechenland aufgebrochenen Söhne.

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Sigmund Freud

Unglaube auf der Akropolis

Ein Urtext und seine Geschichte

Herausgegeben, eingeleitet und mit

einem Nachwort von Alexandre Métraux

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche - фото 1

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2021

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf

ISBN (Print) 978-3-8353-3859-3

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4581-2

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4582-9

Inhalt

Vorwort

Sigmund Freud Brief an Romain Rolland

Sigmund Freud Unglaube auf der Akropolis

Akropolis-Reminiszenzen in zwei Fassungen

Die Textzeugen

Abbildungsnachweise

Bibliographie

Vorwort

Zwei verwandte Texte Sigmund Freuds werden auf den nachfolgenden Seiten zum Vergleich durch Lektüre angeboten. Obwohl der Wortlaut einzelner Passagen beider Fassungen unverkennbar der gleiche, folglich die Verwandtschaft der beiden Texte offenkundig ist, wird keinem ein Vorrecht eingeräumt. Sie mögen als gleichwertige Zeugnisse von Freuds Bearbeitung eines Themas – der Reminiszenzen an die Reise nach Athen im Jahr 1904 – gelesen werden.

Was deren Entstehung betrifft, liegt ein unbezweifelbarer Beweis nicht vor, welche Fassung der Entwurf und welche die letzte Bearbeitung ist. Je nachdem, welches Merkmal für das entscheidende gehalten wird (Datierung einerseits, Umstände, unter denen Freud den jeweiligen Text aus der Hand gegeben hat, andererseits), kann die eine Fassung als die erste, die andere als die nachträgliche – oder umgekehrt – gelten. Da diese Merkmale weder gleichgewichtig noch unerheblich sind, werden beide Texte in engster Nachbarschaft wiedergegeben.

Diese Verfahrensweise mag befremdlich anmuten. Denn wirklich zeitgleich können die beiden Fassungen ja nicht gelesen werden. Sie entziehen sich, wie man sagen könnte, der synthetischen Lektüre. So stellt sich die Frage: Was besagen diese Texte, wenn sie nacheinander, wechselweise Absatz um Absatz oder auf andere Weise rezipiert werden?

Welche Art der Lektüre gewählt wird, bleibt dem Belieben der Lesenden vorbehalten. Ungeachtet dieser Wahl kann die Frage auch anders beantwortet werden – in Anknüpfung an eine Episode aus dem Leben Arthur Rimbauds.

Als im Herbst 1873 sein erstes Werk, Une saison en enfer , [1]veröffentlicht wurde, fragte die Mutter den jungen Dichter, wie dieses sonderbare Buch zu verstehen sei. Rimbaud soll (schnippisch) geantwortet haben: es »besagt, was es sagt, wortwörtlich und in jedem anderen Sinn«. [2]

Der Satz ist oft zitiert und oft kommentiert worden. Gewissheit, dass er von Rimbaud im überlieferten Wortlaut gesagt wurde, gibt es keine. Dies schmälert die Richtigkeit der in dem Satz enthaltenen Leseanweisung aber nicht. Wer ausschließlich auf Wortwörtlichkeit besteht, wird beispielsweise Johann Christoph Gottscheds Schrift Reinecke der Fuchs von 1752 missverstehen, und schon im Alltag wird das Mitsprechen und Hören sprachlicher Äußerungen scheitern – Umschreibungen, Metaphern, Witze, Gefühlsbekundungen und andere Sprechakte verfremden sich in reiner Wortwörtlichkeit zu zwecklosen Worthülsen.

Ohne Wörtlichkeit, gleichviel, ob gelesen oder gehört, ergibt sich kein anderer und noch weniger ein womöglich vielfach anderer Sinn. Nicht jeder andere Sinn, von dem angenommen wird, er wohne Sprachgebilden inne, ist jedoch sofort erkennbar, und unstrittig braucht er sowieso nicht zu sein.

Wie sich anderer Sinn hinter der Wortwörtlichkeit manifestiert, hängt sicherlich davon ab, ob beim Lesen eines Sprachgebildes die innere Stimme nach- oder mitspricht, ob Gedankenassoziationen nicht verhindert werden, ob Identifikationsprozesse stattfinden usw. Was bei wem der Fall ist, lässt sich vorab nicht festlegen, es sei denn, man entwickelt für sich ein Verfahren, an das man sich dann hält, oder man übernimmt ein vorhandenes Verfahren und lässt sich bei der Begegnung von Texten davon leiten.

Das von Freud entwickelte Verfahren der Literaturrezeption beruhte auf der Annahme, vereinfachend gesagt, dass literarische Texte sich wie Traumberichte lesen ließen, die er sich von Patientinnen und Patienten in der Ordination anhörte. Freud las die von ihm untersuchten Werke in einer Rezeptionshaltung, welche die Wörtlichkeit an den Textoberflächen zum Ausgangspunkt nahm, diese Textoberflächen selbst indes als Ergebnis unterschwellig stattfindender Bedeutungsverschiebungen und -verfremdungen deutete, ähnlich den Verschiebungen und Verfremdungen im Traumgeschehen.

Von der Frage, wodurch sich narrative Texte als dichterische auszeichnen, wollte Freud absehen. Es ging ihm nicht um die Bestimmung von Sprachgebilden als Wortkunst. Ihn interessierten die Motive, die Aussagetaktiken, die Diskursbrechungen, die er aus vorliegenden Texten ans Licht heben konnte. Kurz: Freud beschäftigte sich mit den Hintergründen des psychischen Apparats, der sich in belletristischen Texten jedoch auf Umwegen äußerte.

Freud machte kein Hehl aus seiner literatur- und kunsttheoretischen Laienhaftigkeit. Er habe an sich bemerkt, meinte er, dass er auf Inhalte, nicht auf formale und technische Eigenschaften von Werken Wert legen würde. Und zu bedenken gab er zuerst sich selbst und dann jenen, die seinen methodischen Ratschlägen Gehör schenkten, dass die ästhetische Würdigung der Werke und die Aufklärung ästhetischer Begabungen als Aufgabe für die Psychoanalyse nicht in Betracht kämen.

Jean Starobinski hat deshalb mit gutem Grund die Aussage getroffen, dass die Psychoanalyse nur von der Persönlichkeit ästhetisch tätiger Menschen sprechen könne, »d.h. von der psychischen Realität, die unter dem Werk liegt, ihm vorausgeht, deren Kenntnis aber nicht zureichend ist, alle Aspekte des Werks zu erhellen«. [3]

Freuds Bericht über die Athenreise von 1904 in der Fassung des Briefs an Romain Rolland ist, gerade weil er narrativ angelegt ist und sich wie eine kleine Erzählung ausnimmt, verschiedentlich zum Gegenstand gerade solcher Untersuchungen gemacht worden, die es auf die psychische Realität unter dem Text abgesehen hatten. Formale Eigentümlichkeiten, der Stil, einzelne Textmerkmale (beispielsweise die Tatsache, dass die Verse aus dem Klagelied der spanischen Mauren Ay de mi Alhama ohne Übersetzung auskommen mussten) haben in diesen Untersuchungen keine Beachtung gefunden. Hinter den gedruckt vorliegenden Äußerungen und unter der Wortwörtlichkeit wurden Prozesse der psychischen Realität Freuds identifiziert und beschrieben. Ausgangspunkt dieser Untersuchungen war aber stets die von Freud gewählte Wortwörtlichkeit an der Textoberfläche, hinter der nicht zufällig eine nur in einer bestimmten Lesehaltung zur Hörbarkeit gebrachte Stimme darauf wartete, erhört zu werden.

Aber gerade dieser eine Zusammenhang zwischen Wortwörtlichkeit und psychischer Realität, die sich in der Schrift indirekt zum Ausdruck ihrer selbst bringt, wird dann brüchig, wenn dieselbe Ereignisfolge in zwei Fassungen berichtet wird. Diese Fassungen sind zwar zu verschiedenen Zeiten entstanden. Dennoch verarbeiten sie aber identisches narratives Material, und sie tun es, wie angedeutet, in gelegentlich identischem Wortlaut. Die Differenzen an der Textoberfläche sind äußeren Umständen geschuldet. Wenn nun das genaue Lesen des Wortlauts am Anfang der Deutung dessen steht, was in den Tiefen des psychischen Apparats dazu geführt hat, dass eine bestimmte, materiell unzweifelhafte Wortwörtlichkeit sich ergeben hat, und wenn die gleiche Narration in unterschiedlichem Wortlaut vorliegt, dann wirft das die Frage nach der Verbindung von Textoberfläche, Wortwörtlichkeit, verborgenem psychischem Sinn und Textgeschichte auf, eine Frage, deren Antwort zu finden die Lesenden eingeladen werden – in einem bestimmten, in einem anderen, in womöglich endgültig nicht stillzustellenden Sinn.

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