Es wurde eine stürmische Verlobungszeit, sie dauerte anderthalb Jahre. Agatha schrieb Reggie, dass sie die Verbindung mit ihm lösen müsse, und Reggie schrieb zurück, er sei ein Idiot gewesen, sie nicht sofort geheiratet zu haben. Als Agatha das las, weinte sie und machte sich dann hübsch für Archie. Der seinerseits hatte nach Rücksprache mit seinem Ausbilder nun doch Bedenken, sofort zu heiraten: das Militär fürchtete Versorgungsansprüche von Witwen und bevorzugte unverheiratete Anwärter, also hatte man Archie nahegelegt, sich jetzt noch nicht zu binden. »Es ist nur bis zur Abschlussprüfung«, sagte er zu Agatha, aber die war erneut schwer enttäuscht. Archie bot ihr an, sie freizugeben, was die Ärmste nur noch unglücklicher machte. Als aber Clara in dasselbe Horn stieß, weil sie wusste, dass Archie mit seinem jetzigen Sold niemals einen standesgemäßen Hausstand gründen könne, fügte sich Agatha in eine längere Wartezeit. Dann geschah es, dass Claras Mutter nach Ashfield ziehen musste, weil sie erblindete und nicht mehr allein zurechtkam und die Verhältnisse im Hause nun noch enger wurden. Es fehlte an Geld, Personal musste entlassen werden. Agatha sah ein, dass sie künftig im Haushalt mitarbeiten müsse und dass sie, wie die Dinge lagen, moralisch nicht berechtigt sei, Ashfield zu verlassen. Ihre Zweifel gipfelten in dem Vorschlag, jetzt ihrerseits die Verlobung zu lösen. Clara war hin- und hergerissen. Sie wollte Agatha nicht verlieren, ihrem Glück aber auch nicht im Wege stehen. Archie war empört über diese Wendung der Dinge und widersetzte sich der Trennung in aller Entschiedenheit. »Niemand kann für mich das sein, was du für mich bist« , schrieb er ihr , »vergiss mich nie, mein Liebling und liebe mich in alle Ewigkeit.« Zur Not würde er seine Braut entführen. Für Agatha war das genau die richtige Ansage. Aber als sie sich an ihr Pult setzte, um Archie nach Netheravon, wo er seine Übungen absolvierte, einen Liebesbrief zu schreiben, kam Clara mit einer Neuigkeit herein, die sie eben vom Markt in Torquay mit nach Hause gebracht hatte: Auf dem Kontinent war der Krieg ausgebrochen. Es werde auch in England zur Mobilisierung kommen.
Das Fliegerkorps wurde zuerst eingezogen, Archie wartete auf seinen Marschbefehl. Der kam sehr bald: Seine Staffel musste von Southampton aus nach Frankreich starten, es ging los. Agatha und Archie trafen sich ein letztes Mal Anfang August in Salisbury, sie konnten einander nur wenig sagen und beließen es dabei, sich in den Armen zu halten und die Tränen zu verbergen. Es war eine Trennung, ohne dass die Trauung vorausgegangen war, ohne dass sie einander schon angehörten. › Ich schaffe es einfach nicht zu heiraten, was ist bloß los mit mir?‹, dachte Agatha, › dabei möchte ich nichts auf der Welt so gerne. Ich habe es mir immer wieder ausgemalt, stand auch schon kurz davor – mit Bolton, mit Reggie und jetzt mit Archie. Aber es wird nie wirklich was draus. Wie in einem Albtraum, wenn man laufen will und die Füße sind am Boden angewachsen. Bin ich etwa die ewige Braut – die nie Ehefrau wird? Werde ich in aller Zukunft eine alte Jungfer sein? Jetzt bin ich schon fast 24!‹ Agatha seufzte und schnupfte in ihr Taschentuch auf der Rückfahrt nach Torquay. Dort entschloss sie sich, etwas zu tun. Schon, um nicht immer an ihre Ehelosigkeit denken zu müssen und daran, ob Archie womöglich abgeschossen worden sei und sie ihn verloren habe. Sie meldete sich beim Freiwilligen Hilfskomitee und trat umgehend ihren Dienst als Schwesternhelferin im Lazarett an, das in der großen Town Hall untergebracht war.
Der Hafen in Torquay wurde häufig von Schiffen mit Verletzten angefahren, hier kam Agatha in Kontakt mit Kriegsopfern, und das brachte sie Archie näher. Sie war von Anbeginn einsatz- und lernbereit und ließ sich weder durch klaffende Wunden noch Schmerzensschreie der Patienten abschrecken. Die Arbeit war hart und belastend, die jungen weiblichen Freiwilligen wurden angeherrscht und rumgescheucht, aber Agatha klagte nicht, versagte nicht und stand jeden Morgen zu allem bereit auf der Matte. Sie wollte ihren Beitrag leisten in diesem Kriegsgeschehen. Sie wollte hinter Archie nicht zu weit zurückstehen. Die Oberschwester war klug genug, die Freiwilligen anzulernen. » Glauben Sie ja nicht« , musste Agatha sich anhören, »Sie könnten sich nützlich machen, indem Sie etwas tun, was Sie nicht gelernt haben. Sie könnten großen Schaden anrichten.« Agatha schrieb sich den Satz hinter die Ohren und übte sich ausdauernd im Verbände-Wechseln, Wunden-Reinigen und im Lagern und Transportieren der Versehrten. »Ich beschloss, auf jeden Fall durchzuhalten.« Bald war sie recht angesehen auf der Station. Sie überlegte sogar, ob sie nicht eine regelrechte Ausbildung zur Krankenschwester beginnen solle. Es war das erste Mal, dass sie eine richtige Arbeit hatte, sie bekam einen kleinen Lohn, und sie war stolz darauf. »Ich wäre eine gute Krankenschwester geworden« , sagt sie in ihren Memoiren. Wie auch später stets in ihrem Leben bewunderte sie Kompetenz, ganz gleichgültig in welchem Bereich, und wenn ihr die Möglichkeit gegeben wurde, etwas zu erlernen und richtig gut zu machen, griff sie zu. So auch jetzt im Lazarett. Am Abend schrieb sie Briefe an Archie und las die Briefe, die er schrieb. Clara und sie studierten täglich in der Zeitung die Liste der Verletzten und Gefallenen. So viele würden niemals wiederkommen, es waren Nachbarn und Bekannte darunter. Agatha betete für ihren Liebsten. Und Clara dachte an Monty, der in Afrika kämpfte.
Zu Weihnachten bekam Archie Urlaub. Die Verlobten trafen sich in Bristol, wo Peg Hemsley, Archies Mutter, mit ihrem zweiten Ehemann William lebte. Dort standen sie einander gegenüber, frierend, befangen, um Worte verlegen.
»Es war, als müssten wir wieder ganz von vorn anfangen«, s o Agatha im Rückblick. »Der Unterschied zwischen uns beiden machte sich sofort bemerkbar. Seine betonte Lässigkeit, sein frivoles Gehabe störten mich. Ich wiederum war ernster und empfindsamer geworden und hatte die Unbeschwertheit meiner glücklichen Mädchenzeit weitgehend abgelegt. Es war, als bemühten wir uns vergeblich, einander näherzukommen, als entdeckten wir bestürzt, dass wir vergessen hatten, wie wir das anstellen sollten.«
»Ich bin befördert worden«, sagte Archie, »ich habe eine Belobigung für Tapferkeit erhalten.«
»Die hast du verdient.«
»Aber ich werde mit der Fliegerei Schluss machen müssen, ich halte den Luftdruck in der Höhe nicht aus. Irgendwas in meinen Nebenhöhlen ist geplatzt.«
»Ach ja? Wie schrecklich.«
»Ich werde zur Artillerie versetzt.«
Archies Mutter brachte Tee. Ihr Gatte scherzte mit dem Stiefsohn und klopfte ihm auf die Schulter. »Der Krieg wird am Boden entschieden, mein Junge, es ist gut, zur Artillerie zu gehen. Schießt ihn in den Grund, den Kaiser, gebt ihm Saures mit den Kanonen.« Archie lächelte gequält. Er hatte den Krieg erlebt, konnte aber nicht darüber sprechen und wusste nicht, was er sonst sagen sollte. Agatha hatte um ihn gebangt und wünschte, sie könne ihrer Freude Ausdruck verleihen, dass er nun bei ihr war. Aber es war ihr nicht möglich. Sie hätte auch gern von ihrer Arbeit im Hospital erzählt, doch wenn sie dazu ansetzte, blieb ihr die Stimme weg. Alles was sie fühlte war: Er ist mir fremd, er ist mir entsetzlich fremd. Als Archie ihr dann sein Geschenk überreichte, brach sie in Tränen aus. Sie schrie ihn an: »Was soll das?« Es war kein Ring, kein Armband, kein seidenes Tuch – es war etwas Praktisches, ein Reisenecessaire. Dieser Verstoß gegen alle Regeln einer romantischen Courtoisie warf Agatha um. Sie forderte ihn auf, das Geschenk zum Lederwarenhändler zurückzubringen. Er knallte die Tür. Als er wiederkam, passte sie ihn in der Diele ab, gab ihm ihre Hände und flüsterte: »Es tut mir so leid. Lass uns nie mehr streiten. Lass uns wieder gut sein, für immer. Wie ist das: Kannst du nicht bald noch einmal Urlaub nehmen, damit wir heiraten können?«
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