Was der sich herausgenommen hat, dachte Agatha auf der Heimfahrt von Exeter nach Torquay, ganz schön unverschämt. Er war ein Hasardeur, dieser Leutnant Christie, ein Abenteurer offenbar, aber auch ein Mann mit viel Mut. Er war vierundzwanzig Jahre alt, in Indien geboren und bei der Mutter mit Bruder Campbell in Bristol aufgewachsen. Das Soldatenleben, hatte er ihr erzählt, bedeute ihm weiter nichts, aber beim Militär könne er etwas machen, was für ihn als Zivilisten unerschwinglich sein würde: fliegen. Er habe sich bereits für das Königliche Fliegerkorps qualifiziert und besäße ein entsprechendes Zertifikat. Wie stolz er darauf war! Agatha sagte, dass sie ihn sehr gut verstehe und dass sie auch schon mal in die Lüfte aufgestiegen sei, bei einer Flugschau mit ihrer Mutter. Da konnte man einmal kurz mit einer Maschine in die Wolken tauchen, es kostete die enorme Summe von fünf Pfund. Es habe ihr unwahrscheinlich gut gefallen. Archibald küsste ihr die Hand. Jetzt lächelte auch sie.
Ein paar Wochen später spielte Agatha gerade bei der Nachbarsfamilie Mellors mit dem jungen Mellors Badminton, als ihre Mutter sich am Telefon meldete: sie solle doch bitte sofort nach Hause kommen, es sei Besuch für sie da. Agatha wusste, dass es Clara überhaupt nicht gefiel, wenn sie die Honneurs für einen Verehrer ihrer Tochter machen musste, und so lief sie gleich rüber nach Ashfield. Da saß im Salon niemand anderes als der blonde Soldat aus Exeter. ›Habe ich ihm denn gesagt, wo ich wohne?‹, schoss es ihr durch den Kopf. ›Nein, habe ich nicht, er muss sich bemüht haben, es rauszufinden.‹ Jetzt stand er auf, sie zu begrüßen, und er teilte ihr mit, dass er mit dem Motorrad gekommen sei. Allerhand, dachte sie. Und sagte: »Wie nett, Leutnant Christie, dass Sie vorbeigekommen sind.«
Nach diesem Überraschungsbesuch in Ashfield dauerte es nur ein paar Tage, und Archie war wieder da. Er kannte ja nun den Weg. Clara war skeptisch, was diesen selbstsicheren Jüngling betraf, er gefiel ihr, aber sie zweifelte, dass er für ihr Mädchen der Richtige sei. Sie fürchtete, er sei der Typ, der keine Rücksicht nimmt. Ganz anders Agatha. Sie interessierte sich jetzt für die Luftschifffahrt. Sie verschwand manchmal halbe Tage. Ihr Verehrer lud sie zu einem Konzert in Exeter ein und zum Neujahrsball in Torquay. Er wanderte mit ihr durch das unwegsame Dartmoor und erzählte dabei von den neuesten Fluggeräten. Wenn er sie nach Hause brachte, nahm er ihre Hand, und sie schaute nicht an ihm vorbei, sondern in sein Gesicht. Ihr Vorstellungsvermögen dichtete ihm keine Geschichte an, sondern verhielt sich ganz ungewöhnlich: es schwieg. Es überließ sie der Wirklichkeit. Sie drückte seine Hand, ging langsam ins Haus und in ihr Bett und sagte zu sich nur ein Wort, seinen Namen: Archie. Und dachte bei sich: › Er ist mir so fremd.‹ Und schlief ein. Eines Abends, als sie im Pavillon an der Seepromenade Tee getrunken und sich von ihren Stühlen erhoben hatten, sagte er zu ihr mit ernster Miene: »Bitte heirate mich, Agatha!« Sie konnte gerade noch Ja sagen, dann kamen seine Arme und sein Kuss.
Agatha nannte ihre beiden Novellen, die sie für die kritischen Augen von Eden Philpotts ein letztes Mal überarbeitet hatte Vision (englisch: Vision) und Was für ein Eigensinn (englisch: Being so Very Wilful) und machte eine Randnotiz, in der sie Philpotts bat, es mit der Rechtschreibung nicht so genau zu nehmen, das könne man alles korrigieren. Diesmal brachte sie die Manuskripte ihrem Nachbarn selbst. Der Schriftsteller saß in einem Sessel am Fenster, er litt unter Gelenkbeschwerden und ging nur selten aus. Er bot Agatha den zweiten Sessel an.
»Ich bin sehr gespannt auf Ihr neues Werk«, sagte er. »Es kommt öfter vor, dass mir Manuskripte zur Begutachtung zugesandt werden. Meistens schicke ich sie mit ein paar Worten des Bedauerns zurück, denn meine Kräfte schwinden, ich kann nicht mehr allen gerecht werden. Aber auf Ihr Manuskript freue ich mich tatsächlich, da ist Leben im Text.«
Agatha errötete und stotterte: »Da-danke.«
»Man hört ja so dies und das«, fuhr Mr Philpotts fort, »und unsere Haushälterin ist sehr redselig. Es heißt, Sie hätten sich verlobt?«
Agatha lächelte und sagte: »Ja, ich bin verlobt und hoffe, bald zu heiraten. Und wenn ich Ihnen jetzt sage, dass ich unglücklich bin«, fügte sie, plötzlich entschlossen, ihrem Mentor die ganze Wahrheit zu sagen, hinzu, »dann dürfen Sie nicht denken, es sei wegen der Wahl, die ich getroffen habe. Es liegt daran, dass ich mich doppelt verlobt habe.«
»Nun, solange Sie nicht beide Männer heiraten, begehen Sie keine Straftat.«
»Das ist es ja. Ich muss einen von beiden furchtbar vor den Kopf stoßen.«
»Ich nehme an, derjenige, den Sie nicht heiraten wollen, ist der sympathische Lucy-Sohn, der derzeit in Indien stationiert ist?«
Agatha nickte. »Ich mag ihn sehr gern, wissen Sie. Deshalb steht es mir so bevor –«
»Verständlich, verständlich. Und der Glückliche, dem Sie Ihre Hand geben, ist dieser Leutnant aus Bristol vom Fliegerkorps, nicht wahr? Ein Pilot … Das ist natürlich ganz was anderes als ein Kanonier.«
»Es ist nicht nur das. Ich –«
»Natürlich. Sie lieben diesen Flieger, und Lucy ist nur sympathisch. Sie machen es richtig. Und wenn Sie in Zukunft nicht mehr so viel zum Schreiben kommen, dann grämen Sie sich nicht. Leben Sie, lieben Sie –« Er sah aus dem Fenster und murmelte: »Ich sah Sie da neulich entlanggehen mit Ihrem feschen jungen Mann. Da wusste ich: Ihre Leidenschaft für die Literatur hat Konkurrenz bekommen.«
Schon eine Woche später erhielt Agatha einen Brief von Eden Philpotts. Er schrieb:
»Liebe Agatha, ich möchte über Ihre Geschichte ›Being so Very Wilful‹ nicht in technische Details gehen, aber ich freue mich, sagen zu können, dass sie einen stetigen Fortschritt zeigt. Sie haben hart gearbeitet, und Sie haben ein natürliches Empfinden für Aufbau und Gleichgewicht. Tatsächlich entwickelt Ihre Arbeit sich so gut, und falls Ihr Leben sich als eines erweist, in dem für die Kunst Platz ist und Sie den schweren Weg nach oben wagen und gewinnen wollen, haben Sie jedenfalls genug Talent. Ich mache keine Prophezeiungen, aber ich schätze, wenn Sie bereits jetzt so schreiben können, werden Sie es weit bringen. Doch das Leben treibt einer ganzen Zahl von Leuten die Kunst aus, und Ihre zukünftigen Lebensumstände lassen Sie vielleicht einen anderen als den harten Weg der Kunst einschlagen. Wie auch immer –« Der Brief war sehr lang und ausführlich und enthielt etliche Lektüre-Empfehlungen, darunter Gustave Flauberts Madame Bovary . Er schloss mit: »Besuchen Sie mich, wenn Sie möchten und wenn Sie etwas wissen wollen oder Zeit für mehr Bücher haben. Ihr Freund Eden Philpotts« .
Agatha saß allein im Schulzimmer, als sie den Brief las. Sie küsste ihn nach dem Lesen und stand dann auf, um ihn Clara zu zeigen. Sie lachte laut, als sie die Treppenstufen runterlief. Clara las und lachte und wiederholte inbrünstig die lobenden Passagen. » Darling «, rief sie, »wie wunderbar! Am liebsten würde ich diesen Brief in die Zeitung setzen lassen. – Aber was meint Mr Philpotts, wenn er schreibt: Das Leben treibt einer ganzen Zahl von Leuten die Kunst aus …?«
Agatha setzte sich auf die Lehne von Claras Sessel. »Ich habe ihm erzählt, dass ich meine erste Verlobung lösen muss und dass ich heiraten werde, verstehst du? Er hat auch gesagt, er hätte mich mit Archie gesehen, von seinem Fenster aus.«
»Zu Reggie bist du auf Abstand gegangen, als du gefürchtet hast, er würde dich nicht singen lassen. Meinst du, Archie könnte was dagegen haben, dass du schreibst?«
»Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Was heißt das nun, Mama? Dass ich ganz sicher bin: Er wird nichts dagegen haben? Oder dass es mir egal ist und ich nachgeben würde, wenn er was dagegen hätte?«
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