»Willst du mir nicht doch . . . sagen . . .«
»Ich . . . ich kann nicht . . .«
»Also, mach keinen Quatsch, Mädchen . . .«, sagte Erika abschließend, löschte das Licht, schloß die Tür und hatte es eilig. Sie schüttelte die Sorge um Doris ab, nicht, weil sie herzlos war, sondern weil sie die Verzweiflung der Freundin nicht richtig erkannt hatte.
Erst zu spät, am nächsten Vormittag um zehn Uhr, würde Erika ihre Oberflächlichkeit verwünschen . . .
Von dem Moment an, da das Mädchen Lotte und der SS-Hauptsturmführer Kempe die Schwelle des Zimmers überschritten haben, kommen sie sich wie auf Kommando nackt vor. Der Raum ist einfach, fast spartanisch eingerichtet. Die Möbel sind hell, aber kalt. Das ölgemalte Hitlerbild, der Führer mit hochgeschlagenem Mantelkragen, ist in jedem Raum dieses Heims zu Hause.
Lotte steht am Fenster, soweit wie möglich vom Lichtkegel entfernt. Sie schämt sich. Aber dieses heiße Gefühl reicht noch nicht aus, um ihr Weltbild einzureißen. Morgen, denkt sie, oder übermorgen . . . Aber heute noch nicht . . . So darf es nicht sein! Ich kenne ihn doch kaum! Freilich, er gehört zur Auslese wie ich. Aber er sieht mich ja gar nicht richtig an. Er weicht mir aus. Er grinst, wenn ich ihn etwas frage. Und er riecht nach Alkohol.
Kempe deutet auf seine Aktentasche.
»Marschgepäck«, sagt er lakonisch.
Er setzt sich auf das Bett, schlägt die Tasche auf wie ein Zauberer, der die weiße Taube flattern läßt.
Es ist Wodka. Und nicht einmal die Gläser hat der Offizier vergessen. Er nimmt die Flasche, als ob er ihr den Hals abdrehen wollte, zieht den lockeren Korken heraus, schenkt zwei Gläser voll.
»Prost!« sagt er, »setz dich doch . . . machen wa’s uns jemütlich, Mädchen . . .«
Lotte wird von der Peinlichkeit gewürgt. In ihrem blassen Gesicht sind rote Flecken. Sie sieht sich um, betrachtet die Tür, als ob sie gleich fliehen möchte. Wenn er nur etwas sagen würde . . . eine herzliche Geste oder eine dienstliche Parole, ja, auch das . . . schließlich will Lotte bewußt erleben, was man von ihr verlangt . . .
»Keinen Durst?« fragt Kempe. »Prima Ware . . . meine Kompanie hat davon schon ganze Fässer ausgesoffen . . .«
»Ich mag das nicht«, erwidert Lotte.
»Den Wodka?«
»Daß du so trinkst . . .«
»Probier’s mal«, entgegnet der Hauptsturmführer. »Ach . . .« setzt er hinzu, »weeß schon . . . das dämliche Licht . . .« Er geht an das Waschbecken, nimmt das Handtuch und legt es über den grünen Lampenschirm.
»So . . .«, sagt er grinsend, »und jetzt jute Nacht.«
»Ich versteh’ dich nicht«, versetzte Lotte. Sie spürt die Gänsehaut auf ihren Armen und ist auf einmal grenzenlos enttäuscht und ernüchtert.
»Wat vastehste nich?«
» Wir sind doch hier . . . zu einem . . . ernsten Zweck . . .«
»Sicher . . . aber der Ernst kann doch auch jemütlich sein, nich?«
»Wir tun hier, was das Volk von uns erwartet . . .«
»Knorke«, erwidert der SS-Offizier feixend. Dann spült er das zweite Glas hinunter.
Lotte geht mit den schleppenden Schritten eines gefangenen Tieres auf die andere Seite. Sie steht unter dem Hitler-Bild, streift es einen Moment mit den Augen, als ob der Führer sie schützen könnte.
»Det is unsa Adolf . . .«, sagt Kempe, »kenn’ wa . . .«
Er füllt das nächste Glas, hebt es:
»Prost, Alter!«
Dann dreht er sich nach Lotte um.
»Haste schon mal den Führer erlebt?«
»Nein«, erwidert das verwirrte Mädchen.
»Aber ick . . . ick hab’ ihm schon die Hand jedrückt . . .« Er nickt sich ernst und stolz zu. Sein Nationalsozialismus ist mehr praktischer Art. Er ist jederzeit bereit, die Feinde der Bewegung totzuschlagen, aber die braune Theorie zu glauben – nein, das kann kein Mensch von ihm verlangen.
»Seid ihr alle so?« fragt Lotte.
»Wie?«
»So . . . so respektlos . . . und betrunken . . . und . . .«, Lotte sucht nach dem Wort, findet es: »verantwortungslos . . .«
»Hör zu, Mädchen . . . wir kämpfen, wir sterben, und wir lassen sterben . . . und alles für den Führer . . . so . . . und jetzt biste dran . . .«
Kempe verschüttet das Glas, betrachtet trübsinnig den verlorenen Wodka, schenkt sich nach, beobachtet die noch immer unter dem Hitler-Bild stehende RAD-Führerin, die nie echter war als jetzt in ihrer Hilflosigkeit.
»Weiß schon«, knurrte er, »der Führer raucht nicht, trinkt nicht, schläft nicht, fällt nicht . . .«
Das Mädchen schüttelt sich unter seinen Worten wie unter einem Regenguß.
»Und vegetarisch lebt er ooch noch . . . So, Lotte, und jetzt lassen wa die Faxen, und jetzt zwitscherste mal einen . . .«
»Geh«, sagt sie lauter, als sie will, »geh sofort weg . . . mit dir . . . mit euch . . . will ich nichts zu tun haben . . . ihr seid wie . . .
»Hör mal, Kleene . . . langsam wer’ ick ärgerlich . . . det kann ick dir varaten.«
»Ich rufe den Heimleiter.«
»Quatsch«, sagt er. Dann geht er auf Lotte zu, legt die Arme um sie, preßt sie an sich, ohne Überzeugung eigentlich, nur auf Befehl.
Kempe spürt ihren Widerstand. Er liest den Ekel aus ihrem Gesicht. Da läßt er sie los. Geht wieder an seine Aktentasche, korkt die fast leere Wodkaflasche zu, nimmt das Handtuch von der Lampe, sieht im kräftigen Lichtstrahl das weinende Mädchen, nickt.
»Weeßte wat«, sagt er jetzt doch ärgerlich, »rutsch mir den Buckel ’runter, du dämliche RAD-Zicke!«
Er knallt die Tür zu, schüttelt sich und geht wieder nach unten, schon versöhnt und bereit, nach der nächsten zu greifen . . .
Am nächsten Tag, Punkt zehn Uhr, beginnt die Schulung. Der Speiseraum wird zum Lehrsaal. Die Tische stehen an der Wand, die Stühle in Marschkolonne. Vorne, an der Schmalseite des Raums, hat der Sturmbannführer Westroff-Meyer Kartenbilder entrollt und aufgehängt, auf die er mit dem Zeigestock deutet wie in der Schule. Seine Stimme klingt ölig. Er agiert, als hätte er sein Leben lang davon geträumt, Zuhörer zu finden. Jetzt hat er es geschafft. Nach einem erfolglosen Versuch in Juristerei und Medizin sattelt er auf ein anderes Pferd um. Auf das Paradepferd der Bewegung. Auf die Rassenhygiene.
Die Kartenbilder sind mit Blumen, mit Erbsen und Kastanien bemalt. Wirre Linien zeigen auf, wie man sie kreuzte. Aus roten Blüten werden weiße, aus runden Erbsen kantige, aus stacheligen Kastanienschalen glatte. Mit seiner Auffassung von Biologie beginnt der Heimleiter von der Pike auf . . .
»Diese botanischen Erkenntnisse können wir ohne weiteres auf den Menschen übertragen«, ruft der Heimleiter seinen Schülern zu, die weder Erbsen noch Kastanien, sondern Menschen sind, die gleichgültig vor sich hinstarren, zum Fenster hinausschauen, oder an seinen Lippen hängen.
Erika, die Praktische, denkt an das Gemüse, das sie beim Arbeitsdienst geputzt hat. Und dann erschrickt sie. Wo ist Doris? Sie fehlt! Erika will aufstehen und im Zimmer der Freundin nachsehen, aber sie wagt es nicht. Mein Gott, denkt sie, wenn Doris tatsächlich geflüchtet ist, ohne Marschbefehl, ohne Abmeldung, ohne Urlaubsschein . . .
Ganz in ihrer Nähe sitzt Klaus, der nicht mehr über Doris nachdenken will und doch muß, der sie mit den Augen sucht und sich fragt, wo sie sein könnte. Und dann die Frage wieder wegwischt, und mit aufgeworfenen Lippen den rassereinen Mischmasch über sich ergehen läßt.
Auch das gehört zum Lebensborn, wie die Säuglingsheime, wie die blitzblanken Säle, wie der biedere Standartenführer in der Verwaltungszentrale, der seine Lebensborn-Heime so ordentlich leitet, daß Jahre später der Nürnberger Gerichtshof ihn ausdrücklich freisprechen wird. Auch beim Lebensborn gilt: was die Rechte tut, braucht die Linke nicht zu wissen. Die Bewegung freilich ist Linkshänder. Während man nach außen hin einen beinahe idyllischen Rahmen wahrt, während der Rassechef persönlich beteuert, daß die Erziehung eines Kindes im Schoß der Familie durch nichts ersetzt werden kann, hatte er in einem Erlaß vom 28. Oktober 1939 schon die Zeugung des außerehelichen Kindes auf dem Verwaltungswege angeordnet. Er macht das größte Wunder der Natur, die Geburt, zum SS-Befehl! Geburt um jeden Preis! Mit allen Mitteln! Planmäßig gesteuert, überwacht vom SS-Rasse- und Siedlungshauptamt, das alles das in Bewegung bringt, was später unter dem Sammelbegriff Lebensborn bekannt werden soll.
Читать дальше