Einwegscheibe und Videokamera haben aber noch eine andere Wirkung: Es wird stillschweigend und ohne Worte eine Außenperspektive eingeführt. Wer sich beobachtet weiß, verhält sich anders, als wenn er sich unbeobachtet fühlt. Das mag einer der Gründe sein, warum Therapeuten sich häufig scheuen, sich filmen zu lassen. Ihre Arbeit würde dann auf einmal überprüfbar, mehr oder auch weniger wohlmeinende Kollegen oder gar die Öffentlichkeit könnten die Videobänder anschauen und ihr Urteil über die Qualität der Therapeut-Patienten-Beziehung oder die Arbeitsweise des Therapeuten abgeben. Traditionellerweise ist die Einstellung von Psychotherapeuten zur Kontrolle ihrer Arbeit seltsam gespalten: Auf der einen Seite wird die Wichtigkeit regelmäßiger Supervision und einer ausführlichen Reflexion der Therapeut-Patienten-Beziehung betont und daher zu einem wichtigen Bestandteil der Ausbildung gemacht, auf der anderen Seite hat aber jeder Therapeut das Privileg, vollkommen unbeobachtet zu arbeiten. Was er macht, findet hinter gepolsterten Türen statt, so daß kein Kollege zufällig hören kann, was tatsächlich in der Sitzung geschieht. Die Kontrolle seiner Arbeit beschränkt sich darauf, daß er selbst erzählt, was er meint, was wer wie gesagt hat, was passiert ist, was wichtig war usw. Der Patient ist daher immer irgendwie dem Therapeuten ausgeliefert: Ein anerkannter Experte steht jemandem gegenüber, der psychische Probleme hat. Das ist ein wenig so, als wenn sich Geschwindigkeitskontrollen darauf beschränkten, Autofahrer zu befragen, wie schnell sie denn gefahren seien. Um solch einer Situation zu entgehen, kommen gelegentlich Patienten gerade deswegen zu uns, weil sie wissen, daß jemand zuschaut bzw. Video-aufnahmen gemacht werden. Die Frage des Schutzes der Intimität und Vertraulichkeit ist also doppelbödig, und die Schweigepflicht schützt erfahrungsgemäß nicht nur die Patienten, sondern auch die Therapeuten .
Das Mit-nach-Hause-Geben der Videobänder hat aber noch eine andere Wirkung. Werden die Bänder von Familien später noch einmal betrachtet, so entfalten sie eine über den Augenblick hinausgehende, längerfristige Wirkung. Oft werden dadurch zu Hause weitere Diskussionen und Auseinandersetzungen ausgelöst, die keinerlei Kontrolle durch die Therapeuten unterworfen sind. Wer dies nicht möchte, sollte keine Videobänder nach Hause mitgeben. In jedem Fall ist für die Entwicklung einer vertrauensvollen Beziehung wichtig, von Beginn an ganz deutlich zu machen, daß die Patienten das Recht haben, die Aufnahme zu verweigern oder sie löschen zu lassen .
GUNTHARD WEBEREs kann sein, daß die Kollegen hinter dem Spiegel mal vorkommen und mal an die Tür klopfen – wenn wir zum Beispiel parteilich werden und einen besonders berücksichtigen und den anderen vernachlässigen –, daß die dann kommen und uns zur Ordnung rufen. Es kann sein, daß wir mal eine Pause machen. Auf alle Fälle machen wir nach so einem Gespräch von etwa einer bis anderthalb Stunden auf alle Fälle eine Pause, wo wir uns noch einmal zusammensetzen, sehen, was ist im Gespräch gelaufen, was können wir Ihnen raten angesichts der Situation, in der Sie im Augenblick stehen.
Die hinter der Scheibe sitzenden Kollegen haben zwangsläufig eine andere Perspektive auf den Sitzungsverlauf, die Therapeut-Patienten-Beziehung oder die geäußerten Inhalte als die Therapeuten in der Sitzung. Wann immer sie denken, die Einführung dieser Außenperspektive könnte für den Verlauf der Therapie von Nutzen sein, so unterbrechen sie die Sitzung, geben Kommentare oder diskutieren die Situation mit den Kollegen vor der Scheibe. Vor Abschluß der Sitzung empfiehlt es sich immer, eine Pause zu machen – auch wenn man allein arbeitet –, da häufig erst ein gewisser Abstand vom Handlungsdruck während der Sitzung ermöglicht, in Ruhe das Gehörte und Gesehene zu überdenken. Ohne Pause fällt den meisten Therapeuten erst auf dem Weg nach Hause ein, was sie noch hätten fragen oder sagen sollen. Mit Pause kann dies noch unmittelbar in der Sitzung getan werden .
FRITZ SIMONWir verstehen das Ganze erst einmal als ein klärendes Vorgespräch, um herauszufinden, ob Sie hier überhaupt an der richtigen Adresse sind, ob wir Ihnen überhaupt behilflich sein können, in der einen oder anderen Art. Da sind wir offenbar einer Meinung. Sie verstehen es auch so …
Ist dieser äußere Rahmen, den ich, den wir Ihnen erklärt haben, ist der für Sie klar, und ist das so akzeptabel für Sie? Das ist die erste Frage. Weil … es ist etwas ungewohnt, und deswegen erklären wir es am Anfang ausführlich; damit Sie nicht das Gefühl haben, Sie stolpern da in irgendwas hinein, was Sie gar nicht wollen.
FRAU SCHNEIDERDoch, das ist soweit, glaube ich, klar.
HERR SCHNEIDERIch meine, wir sollten mal sagen, wie die augenblickliche Situation ist, und ob man nicht vielleicht noch was warten sollte, weil …
FRAU SCHNEIDER (unterbricht ihn) Also im Moment bin ich ja in einer psychiatrischen Klinik … wegen einer Depression, ja. So daß es im Moment sicher auch nicht günstig wäre, damit anzufangen.
HERR SCHNEIDERJa, wir haben diesen Termin jetzt mal angeboten bekommen und uns gesagt, wir können mal zu dem Vorgespräch gehen. Aber die Ärzte dort meinten auch, man sollte doch warten.
FRITZ SIMONAlso, der richtige Zeitpunkt für dieses Vorgespräch ist es nicht, oder für die Therapie ist es nicht …?
HERR SCHNEIDERNein, also das Vorgespräch kann man durchaus machen!
FRITZ SIMONAh ja! Das war mir nur jetzt nicht klar. Ja, Sie sprachen es eben schon an, der Termin wurde angeboten … Das denke ich ist der Punkt, wo wir am Anfang mal anfangen sollten. Wie sind Sie denn überhaupt hierher gekommen? Wie war der Weg hierher?
FRAU SCHNEIDERÜber meine Psychotherapeutin. Ja, und die sagte eben, daß hier im Institut an einem Projekt mit Manisch-Depressiven gearbeitet wird, und ich hab, ja, manische Phasen gehabt … (einige Sekunden Zögern) … nach Meinung anderer.
(Bei der letzten Bemerkung lächelt sie, ihr Mann lächelt dann – wenn auch etwas verzögert und etwas gequält – auch.)
FRITZ SIMONNach Meinung anderer … Sie meinen, wir sollten auf die Formulierung, die Sie eben gewählt haben, achten?
FRAU SCHNEIDERJa, ich bin mir da nicht sicher, … also ich bin da nicht mehr so sicher.
FRITZ SIMONHm, hm.
GUNTHARD WEBERIhre Psychotherapeutin, denkt die denn, wenn sie Sie zu unserem Projekt schickt, bei dem wir uns ja gerade mit solchem Verhalten beschäftigen, denkt die denn, Sie haben …
FRAU SCHNEIDERDeshalb sagte sie, sollten wir mal hierherkommen.
FRITZ SIMONHeißt das, daß Ihre Therapeutin denkt, daß das manisches Verhalten war? Gehört die zu den anderen, die meinen, das sei eine manische Phase … ?
FRAU SCHNEIDERNein, ich hab sie, glaub ich, angerufen, weil ich merkte, daß ich in eine Depression kam. Und ich wollte von ihr gerne wissen, welchen Psychiater sie mir empfehlen könnte, und daß für mich die Frage offen ist, ob es eine manische Depression ist. Und dann hat sie uns hierher verwiesen.
Interessant ist hier der Gebrauch des Begriffs „manische Depression“. In der medizinischen Terminologie gibt es zwar die manisch-depressive Erkrankung, bei der manische Phasen und depressive Phasen in zeitlich gegeneinander abgegrenzten Phasen auftreten, aber es gibt keine manische Depression – das wäre ein Widerspruch in sich selbst. Es handelt sich hier also um eine Art privatsprachlicher Verwendung eines aus dem Kontext gelösten medizinischen Fachausdrucks, der im familiären Gebrauch eine spezifische Bedeutung erhalten hat .
FRITZ SIMONWie waren Sie zu Ihrer Therapeutin gekommen?
FRAU SCHNEIDERNa ja, wegen Eheproblemen. Ich hatte mehrere Depressionen und ich meinte … also, ich war halt der Meinung nach längeren eigenen Überlegungen, daß das … also, daß ein Grund dafür eben Eheprobleme sein könnten.
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