»Abzüglich der Kosten für Metro und Zigaretten. Für die Bahn hat er ein Abonnement.«
Sie zögerte, die Brieftasche einzustecken.
»Sie brauchen sie wohl noch?«, fragte sie.
»Bis auf Weiteres, ja.«
»Am wenigsten verstehe ich, dass man ihm andere Schuhe angezogen und eine andere Krawatte umgebunden hat. Und dass er sich zu der Zeit, als das passierte, nicht im Geschäft befand.«
Maigret ging nicht darauf ein, sondern legte ihr die Formulare zur Unterschrift vor.
»Fahren Sie jetzt wieder nach Hause?«
»Wann wird die Leiche freigegeben?«
»Wahrscheinlich in ein oder zwei Tagen.«
»Wird eine Autopsie gemacht?«
»Wenn der Untersuchungsrichter sie anordnet. Das ist noch nicht sicher.«
Sie sah auf ihre Uhr.
»In zwanzig Minuten geht ein Zug«, sagte sie zu ihrer Schwester, und zu Maigret:
»Könnten Sie uns am Bahnhof absetzen?«
»Willst du nicht noch auf Monique warten?«, fragte die Schwester.
»Sie wird schon allein nach Hause kommen.«
Sie fuhren den Umweg über die Gare de Lyon. Dann betrachteten Maigret und Santoni die beiden Gestalten, die fast gleich aussahen und die Steinstufen hinaufstiegen.
»Die ist zäh«, brummte Santoni. »Der arme Kerl hat bestimmt nichts zu lachen gehabt.«
»Jedenfalls nicht bei ihr.«
»Was halten Sie von der Geschichte mit den Schuhen? Wären sie neu, wär’s nicht weiter verwunderlich. Er hätte sie eben heute erst gekauft.«
»Das hätte er nicht gewagt. Hast du nicht gehört, was sie gesagt hat?«
»Auch eine auffällige Krawatte hätte sie nicht geduldet.«
»Ich bin gespannt, ob die Tochter der Mutter ähnlich ist.«
Sie fuhren nicht gleich zum Quai des Orfèvres zurück, sondern hielten an einer Brasserie, um zu Abend zu essen. Maigret rief seine Frau an und teilte ihr mit, dass es spät werden würde.
In der Brasserie roch es auch nach Winter. An allen Haken hingen feuchte Mäntel und Hüte, und die dunklen Fensterscheiben waren beschlagen.
Der Pförtner beim Eingang zur Kriminalpolizei sagte zu Maigret:
»Eine junge Frau hat nach Ihnen gefragt. Sie ist wohl herbestellt worden. Ich habe sie nach oben geschickt.«
»Wartet sie schon lange?«
»Etwa zwanzig Minuten.«
Der Nebel hatte sich in einen feinen Regen verwandelt, und auf den immer staubigen Stufen der breiten Treppe waren feuchte Fußspuren zu sehen. Die meisten Büros waren verlassen. Nur unter einigen Türen sah man Lichtschimmer.
»Soll ich noch bleiben?«, fragte Santoni.
Maigret nickte. Da Santoni von Anfang an dabei gewesen war, sollte er die Untersuchung mit ihm weiter durchführen.
Eine junge Frau, deren hellblauer Hut das Auffallendste war, saß in einem Sessel im Vorzimmer. Der Raum war nur schwach beleuchtet. Der Bürodiener las in einer Abendzeitung.
»Sie werden erwartet, Chef.«
»Ich weiß.«
Maigret wandte sich an die junge Frau: »Monique Thouret? Bitte folgen Sie mir in mein Büro.«
Er knipste die Lampe mit dem grünen Schirm an, deren Schein auf den ihm gegenüberstehenden Sessel fiel, und bat sie, dort Platz zu nehmen. Er bemerkte, dass sie geweint hatte.
»Mein Onkel hat mir mitgeteilt, dass mein Vater tot ist.«
Er antwortete nicht sofort. Wie ihre Mutter hielt sie ein Taschentuch in der Hand, aber ihrs war zerknüllt, und sie knetete es unentwegt mit den Fingern, so wie Maigret als Kind ein Stück Gummi geknetet hatte.
»Ich dachte, Maman ist bei Ihnen.«
»Sie ist nach Juvisy zurückgefahren.«
»Wie hat sie es aufgenommen?«
Wie sollte er darauf antworten?
»Ihre Mutter war sehr tapfer.«
Monique war durchaus hübsch. Sie sah ihrer Mutter nicht besonders ähnlich, bis auf die stämmige Figur. Die fiel jedoch weniger auf, da sie jung und straff war. Sie trug ein gut geschnittenes Kostüm, was den Kommissar ein wenig überraschte, denn sie hatte es gewiss weder selbst geschneidert noch in einem billigen Laden gekauft.
»Was ist denn überhaupt passiert?«, fragte sie schließlich, und ihre Augen glänzten feucht.
»Ihr Vater wurde erstochen.«
»Wann?«
»Heute Nachmittag, zwischen halb und Viertel vor fünf.«
»Wie konnte das geschehen?«
Warum hatte er den Eindruck, dass sie nicht ganz aufrichtig war? Die Mutter hatte auch eine gewisse Sprödigkeit gezeigt, die ihrem Charakter aber gut entsprach. Madame Thouret erachtete es im Grunde als unwürdig, sich in einer Sackgasse am Boulevard Saint-Martin ermorden zu lassen. Sie hatte ihr Leben streng geregelt, und nicht nur ihr eigenes, sondern das Leben der ganzen Familie. Dieser Tod passte nicht in die Ordnung, die sie hergestellt hatte. Schon gar nicht, wenn der Tote gelbe Schuhe und eine knallrote Krawatte trug.
Monique dagegen wirkte vorsichtiger, als befürchtete sie gewisse Enthüllungen, gewisse Fragen.
»Kannten Sie Ihren Vater gut?«
»Aber … natürlich …«
»Selbstverständlich, Sie kannten ihn, wie man seine Eltern kennt. Ich meine aber, ob Sie eine besonders vertraute Beziehung zu ihm hatten, ob er manchmal von seinen Gefühlen und Gedanken zu Ihnen sprach.«
»Er war ein guter Vater.«
»War er glücklich?«
»Ich nehme es an.«
»Haben Sie ihn manchmal in Paris getroffen?«
»Ich verstehe Ihre Frage nicht. Meinen Sie, auf der Straße?«
»Sie arbeiteten doch beide in Paris. Ich habe schon erfahren, dass Sie nicht denselben Zug benutzten.«
»Unsere Arbeitszeiten waren verschieden.«
»Sie hätten sich manchmal zum Mittagessen treffen können.«
»Manchmal, ja.«
»Häufig?«
»Nein, eher selten.«
»Haben Sie ihn dann von seinem Geschäft abgeholt?«
Sie zögerte.
»Nein, wir haben uns immer in einem Restaurant getroffen.«
»Haben Sie ihn angerufen?«
»Ich kann mich nicht erinnern, ihn je angerufen zu haben.«
»Wann haben Sie zum letzten Mal zusammen gegessen?«
»Vor Monaten. Noch vor den Sommerferien.«
»In welchem Viertel?«
»In La Chope Alsacienne, einem Restaurant am Boulevard Sébastopol.«
»Wusste Ihre Mutter davon?«
»Vermutlich habe ich es ihr erzählt, ich weiß es nicht mehr.«
»War Ihr Vater ein heiterer Mensch?«
»Er war heiter. Glaube ich.«
»War er bei guter Gesundheit?«
»Ich habe ihn nie krank gesehen.«
»Hatte er Freunde?«
»Wir verkehrten vor allem mit meinen Tanten und Onkeln.«
»Haben Sie viele?«
»Zwei Tanten und zwei Onkel.«
»Wohnen sie alle in Juvisy?«
»Ja, nicht weit von uns. Mein Onkel Albert, der Mann meiner Tante Jeanne, hat mir mitgeteilt, dass Papa tot ist. Meine Tante Céline wohnt etwas weiter entfernt.«
»Sind diese beiden Tanten die Schwestern Ihrer Mutter?«
»Ja. Onkel Julien, Tante Célines Mann, arbeitet auch bei der Bahn.«
»Haben Sie einen Freund, Mademoiselle Monique?«
Sie wurde etwas verlegen.
»Es ist wohl nicht der richtige Augenblick, darüber zu sprechen. Muss ich meinen Vater sehen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Nach dem, was mein Onkel gesagt hat, dachte ich, ich müsste ihn identifizieren.«
»Das haben Ihre Mutter und Tante schon getan. Wenn Sie allerdings möchten …«
»Nein. Ich sehe ihn ja wohl zu Hause.«
»Noch eine Frage, Mademoiselle Monique. Hat Ihr Vater, wenn Sie ihn in Paris trafen, manchmal gelbe Schuhe getragen?«
Sie antwortete nicht sofort. Um Zeit zu gewinnen, wiederholte sie:
»Gelbe Schuhe?«
»Ja, ganz hellbraune, wenn Ihnen das mehr sagt. Zu meiner Zeit nannte man die Farbe solcher Schuhe, entschuldigen Sie den Ausdruck, Kackgelb.«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Haben Sie auch nie eine rote Krawatte an ihm gesehen?«
»Nein.«
»Wann waren Sie zum letzten Mal im Kino?«
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