ZWEI
Es ist kein Traum. Dies passiert tatsächlich. Egal wie sehr Gordon es sich wünscht, er kann sich nicht zum Aufwachen zwingen, da er nicht schläft.
Im Regen wirkt die Stadt, als würde sie um ihn herum schmelzen. Ein flüssiger Himmel beherrscht verzerrte Spiegelbilder in einer dreckigen Pfütze, wellt und bewegt sich, wie es nur etwas Lebendiges kann. Etwas Lebendiges, das Schmerz empfinden kann, etwas Oberflächliches, das alles versteckt, was in tieferem, dunklerem Wasser lebt und sich verschwört. Und eine vorzeitige nachmittägliche Dunkelheit beginnt durch den Regen zu wirbeln; schwarzes Blut aus Wunden, die niemals heilen werden.
Mit an die Brust gedrücktem Kinn hastet Gordon so schnell er kann durch den Regenschauer, die Hände in den Taschen seines Regenmantels versenkt. Andere eilen mit ihren Aktentaschen und Einkaufstüten, Zeitungen und Regenschirmen, elektronischen Kinkerlitzchen und Designerhandys ebenso umher. Affen mit Make-up und hochhackigen Schuhen, Anzügen und Vatertagkrawatten, die auf der Suche nach Schutz über die Betonebene laufen, Schutz in Höhlen und Bäumen aus Stahl und Plastik, Eisen und Ziegeln finden; Käfige mit falscher Sicherheit in einer Welt von Urangst und herrlicher Verrücktheit. Schmerz und Freude, Horror und Schönheit sind für alle zu sehen versteckt. Ein Kaiserreich des Chaos …
Dort, im Regen.
In Richtung einer Seitengasse überquert Gordon mit seinen erwachenden Dämonen die Straße, die ihm nach langem Schlaf hinterherstolpern. Seine Schuhe platschen durch Pfützen. Er ist außer Atem – er kann sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so weit gegangen ist, ohne zwischendurch anzuhalten. Seine Beine tun weh und sein Rücken schmerzt. Dieses nasse Wetter macht es nur noch schlimmer. Jedes Gelenk schmerzt in feuchtem oder kaltem Wetter, und jetzt ist es beides, aber er ist entschlossen, sein Ziel ohne Unterbrechung zu erreichen.
Die Straße ist schmal und ihr nasser Asphalt reflektiert die dunklen und trostlosen Gebäude, die beide Seiten säumen und wie Phantome über ihm aufragen. Vor seinem inneren Auge blitzen Visionen auf, aber er ignoriert sie. Er muss sie ignorieren, sonst gewinnen sie an Macht. Er eilt zu einer Markise über der Eingangstür einer kleinen Bar hinüber, die zwischen ein abrissreifes dreistöckiges Wohnhaus und einen Pfandladen geklemmt ist.
Drinnen empfängt ihn eine Welle heißer Luft. Sie mindert sein Frösteln, aber kalt ist ihm immer noch und seine Hände sind wie Eis.
Verdammter Kreislauf. Jeden Tag funktioniert sein Körper langsamer, verrät ihn etwas mehr. Selbst sein Blut stirbt ab, gerinnt wie Sirup in seinen Venen. Er stirbt einen langsamen Tod, einen endlosen Fall in die sich verstärkende Dunkelheit. Er schüttelt die Tropfen vom Regenmantel, nimmt den Hut ab und wartet, dass sich seine Augen an die trübe Belichtung gewöhnen. Er ist schon mal hier gewesen, aber nicht in den letzten Monaten. Den Bartender erkennt er nicht, der muss neu sein – ein Typ um die dreißig in Sweatshirt und Jeans, kräftig gebaut mit rasiertem Kopf und Diamantenohrstechern, die zu groß sind, um echt zu sein, in beiden Ohren.
»Ist wohl noch gut am Regnen draußen, was?«, fragt der Bartender mit einem breiten Lächeln.
Statt eine solch dämliche Frage zu beantworten, bestellt Gordon sich lieber einen Kaffee. Fenster gibt es hier nicht, und das einzige Licht kommt von kleinen Kerzen, die in roten Gläsern die Bar entlang und auf jedem der Tische stehen, was allem, selbst den Schatten, einen drohenden, blutig glühenden Anstrich verleiht.
Nachdem er seinen Kaffee bezahlt hat, geht Gordon an den Tisch, wo sein Freund sitzt. Er setzt die Tasse ab und zieht sich mit gesenktem Kopf den Regenmantel aus und legt ihn über die Stuhllehne. Müde setzt er sich Harry gegenüber und umfasst seine Tasse mit den Händen, wodurch sie etwas wärmer werden.
Harry ist Gordons ältester und bester Freund. Er kennt ihn seit fast fünfzig Jahren und ist für Gordon wie ein Bruder. Er ist das Beste von Gordon und gleichzeitig das Schlechteste.
»War mir nicht sicher, ob du kommen würdest«, sagt Harry. Obwohl er seit über fünfzig Jahren in Amerika lebt, spricht er noch immer mit einem leichten britischen Akzent.
»Ich hab dir doch gesagt, dass ich komme, oder nicht?«
Harry nippt an seinem Scotch und Soda. »Kaffee um diese Uhrzeit?«
»Mir ist kalt.«
»Mir ist immer kalt.«
»Dir und mir.«
»Ist schrecklich, alt zu sein, nicht?« Harry grinst, wobei seine langen nikotinfleckigen Zähne hervorblitzen, aber viel mehr ist von ihm auch nicht zu sehen, da er im Dunkeln sitzt. »Was würde ich nicht dafür geben, noch mal zurück zu können und zwanzig, zehn – ach was, auch nur fünf Jugendjahre zu haben.«
»Man kann nicht ewig leben, Harry.«
»So heißt es. Aber die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie mal war, nicht?«
Gordon probiert seinen Kaffee. Er ist stark und bitter und so heiß, dass er ihm die Lippen verbrennt. »War sie das jemals?«
Harry beantwortet das nicht. Nach einer Weile erzählt ihm Gordon von dem Obdachlosen, der vor seiner Wohnung angegriffen wurde.
»Der mit dem geschniegelten Bart, der im Park lebt? Der muss zehn Jahre älter sein als wir.«
»Auf jeden Fall mindestens fünf oder sechs Jahre älter.«
»Abschaum. Die hätten ihn töten können.«
»Haben sie vielleicht auch. Sie haben ihn im Krankenwagen weggebracht. Ich weiß es nicht.«
Harry fährt sich mit einer von Arthritis verkrüppelten Hand durch sein dünnes graues Haar, das er von seinem kantigen Gesicht immer streng nach hinten kämmt.
»Himmel auch.«
»Ja.« Gordon trinkt einen weiteren Schluck Kaffee. Wärme beginnt, wieder in seine Gliedmaßen zurückzukehren. »Hätte genauso gut ich sein können.«
»Oder ich, Gordo, meine Nachbarschaft ist auch nicht besser.« Er lächelt wieder, aber es sieht schmerzvoll aus und nicht freudig. »Du könntest dich wenigstens wehren.«
»Vor Jahren vielleicht noch. Jetzt nicht mehr. Ich stehe mir andauernd selbst im Weg rum.«
Harry schaut nach rechts, als würde er zwischen den benachbarten Tischen etwas über den Boden laufen sehen. »Ist mir ja peinlich es zuzugeben, aber es gibt Tage, an denen ich Angst hab, aus meinem Zimmer zu gehen.«
»Das muss dir doch nicht peinlich sein. An manchen Tagen habe ich auch Angst.«
Harry trinkt aus und unterdrückt ein Rülpsen. »Immerhin gab’s mal Zeiten, zu denen du hart drauf warst. Ich hab Kämpfe aber noch nie gemocht. Hab mich immer davor gedrückt. Hab mich an meine Bücher und meine Theaterstücke, meine Bilder gehalten. Ich war nie ein richtig harter Kerl.«
»Niemand mit ein bisschen Verstand hat Spaß an Gewalt, Harry. Du hast immer über solchem Schwachsinn gestanden.«
Er starrt in sein leeres Glas. »Vielleicht hatte ich bloß Angst.«
»Wir alle hatten Schiss.«
»Aber du warst in Vietnam, Gordo, du-«
»Ich war bloß ein Soldat, nichts weiter. Außerdem ist das schon Ewigkeiten her.«
»So lange nun auch wieder nicht.«
»Es war ein völlig anderes Leben, glaub mir.«
Harry lehnt sich vor, durchbricht die Dunkelheit. Mit seiner zerknitterten Hose, der Tweedjacke und dem Wollschal konnte er als alternder Collegeprofessor aus einem Kunstfilm durchgehen, aber seine fahle Haut, die das Kerzenlicht in ein unheimliches Rot taucht, gibt ihm ein fast dämonisches Aussehen.
»Es geht doch darum, dass du die Erfahrung gemacht hast.«
»Welche Erfahrung?«
»Na, du hast Menschen … getötet. Vorher, im Einsatz, hast du-«
»Harry, das ist was, über das ich nicht gern rede.« Ein scharfer Schmerz durchsticht Gordons Schläfe. Er verzieht das Gesicht und schiebt seine Kaffeetasse beiseite. »Und das weißt du.«
»Tut mir leid.« Er lehnt sich zurück, erlaubt der Dunkelheit, ihn besser zu verbergen. »Ich habe nicht das Recht zu …«
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