Saga
Erstes Kapitel
Ein zug und ein mädchen
An einem kalten Februarmorgen stampfte ein Zug in östlicher Richtung aus dem Bahnhof Marseille, zog langsam durch ein paar Kurven und erhöhte dann seine Geschwindigkeit.
Das Wetter war grau. Die meisten Reisenden saßen schläfrig und mürrisch da. Die Abteile dritter Klasse waren schon zu Beginn der Reise schmutzig, und bald sammelten sich weitere Mengen von Frühstückspapier, Bananenschalen, Brotresten und leeren Weinflaschen an.
Die Aussicht durch die verstaubten Fenster war nicht besonders aufmunternd. Zwar bot sie hin und wieder einen Blick auf das Mittelmeer, das trotz des grauen Himmels blau, herrlich blau dalag, doch es entschwand immer wieder den Blicken, und man sah dann nur die kleinen, häßlichen, ärmlichen Häuser und um sie herum die Küchengärten, verwildert und verwelkt, mit halbverfaulten Kohlstrünken, die aus der rötlichen Tonerde ragten.
Und jetzt begann es obendrein noch zu regnen.
In den Abteilen 1. und 2. Klasse beklagten sich die Fahrgäste über die Kälte. Der Zugschaffner lief aufgeregt von einem Wagen zum anderen, riß an den Handgriffen der Heizanlage — was er an diesem Morgen schon einige Male getan hatte — und ließ geduldig und gutmütig die Klagen über sich ergehen, womit ihn die Leute überschütteten.
„Mais oui, Madame, aber ich kann nichts dafür! Sehen Sie!“ und er rüttelte wieder an den Handgriffen, obwohl sie schon auf „warm“ standen. „Sehen Sie! Ich kann nichts dafür! Es muß etwas an der Heizung nicht in Ordnung sein. — Entschuldigen Sie, Madame.“ Und er stürzte weiter zum nächsten Abteil, um dort ähnliche Verwünschungen entgegenzunehmen.
In der 3. Klasse spürte man nicht so viel von der Kälte. Hier waren mehr Fahrgäste. Alle Plätze waren besetzt, und in den Gängen saßen die Leute auf ihren Kisten und Koffern. Man war allmählich wach geworden. Das Gerede wurde lebhafter, begleitet von großen Gesten und Handbewegungen. Auf diese Weise wurde man warm. Es roch nach Essen, nach geräuchertem Fisch und nach Wurst, und die Luft war dick vom Rauch selbstgedrehter Zigaretten.
Plötzlich fiel eine Lattenkiste vom Gepäcknetz herunter. Sie zerbrach, und heraus flog zeternd und flügelschlagend ein Hahn und flatterte im Abteil herum. Man versuchte, ihn zu fangen. Frohes Lachen erfüllte das Abteil. Unter dem Jubel der Reisenden wurde der Hahn schließlich eingefangen und wieder in seiner Kiste untergebracht. Dieses kleine Erlebnis brachte die Fahrgäste einander näher. Jetzt kannten sich auf einmal alle. Man schwatzte, aß, rauchte, lachte und freute sich.
Ein großer dicker, gutmütiger Mann wandte sich an das junge Mädchen, das gegenüber in der Ecke saß und aus dem Fenster sah.
„Und Sie, kleines Fräulein? Sie sind so schweigsam. Sie sind wohl fremd hier?“
Das junge Mädchen sah ihn an und lächelte. Sie war fünfzehn bis sechzehn Jahre alt, in einen etwas ärmlichen, schwarzen Mantel gekleidet. Ihre Schuhe und Strümpfe wirkten alt und verbraucht, aber sauber und gepflegt. Das lange, blonde Haar stach von dem leuchtend schwarzen der Franzosen sonderbar ab. Sie war hübsch, und jetzt, da sie lächelte, konnte man ihre weißen regelmäßigen Zähne sehen.
„Oui, Monsieur,“ begann sie. — Dann zögerte sie einen Augenblick, offenbar um nach Worten zu suchen. „Oui, Monsieur, ich komme aus Dänemark.“
„Oh!“ Der dicke Mann spitzte den Mund und pfiff durch die Zähne. „Oh, das ist ja eine Riesenreise. Und Sie sind ganz allein?“
„Ja.“
„Allerhand! — In Dänemark,“ fuhr er fort und wandte sich an die Mitreisenden, die aufzuhorchen begannen, „— da schneit es immer. Stimmt das nicht?“
„Nein,“ lachte sie, „nicht ganz. In Wirklichkeit haben wir nicht viel Schnee. Es gibt Jahre, in denen es überhaupt nicht schneit, leider.“
„Ist das wahr? Ich glaube gehört zu haben — —, na, aber Sie müssen es wohl besser wissen.“
Eine ältere Frau ihr gegenüber sagte:
„Sie sprechen aber ausgezeichnet französisch. Wo haben Sie das denn gelernt?“
„Ich bin in die französische Schule in Kopenhagen gegangen, Madame. Meine Großmutter war Französin.“
„Aah, und jetzt wollen Sie mal da runter und sich das Meer ansehen?“
„Ja, ich soll bei meiner Tante in Beaulieu-sur-Mer wohnen. Sie hat dort ein kleines Hotel.“
„In Beaulieu?“
„Ja.“
„Das ist eine prachtvolle kleine Stadt. Sind Sie schon mal dort gewesen?“
„Nein, ich reise jetzt zum erstenmal ins Ausland.“
„Entschuldigen Sie,“ sagte der dicke Mann, „aber wie heißt Ihre Tante? Ich habe nämlich eine Gärtnerei in Nizza, und wir liefern für viele Hotels an der Küste das Gemüse.“
„Sie heißt Aubrune, Alice Aubrune.“
„Ach, Hotel Aubrune! Dann ist Ihre Tante eine alte Kundin von mir. Sie ist eine sehr nette Dame. — Und Ihr Onkel, Victor Aubrune — schade, daß er starb. Haben Sie ihn gekannt?“
„Nein, ich habe nur von ihm gehört. Und an meine Tante kann ich mich auch kaum erinnern. Ich war noch so klein, als sie damals nach Frankreich reiste, um Onkel Victor zu heiraten.“
„Aber Sie werden doch nicht hier unten bleiben?“ fragte die Frau.
„Doch.“
„Und Ihre Eltern?“
„Die sind gestorben.“
„Ach, armes Mädchen. Wie ist Ihr Name, Mademoiselle?“
„Hanne,“ sagte sie, „Hanne Holm.“
Der dicke Mann versuchte, den Namen auszusprechen. Sie lachte:
„Nein, so: Hanne, — H-a-n-n-e Holm.“
„’Annae ’Olm,“ sagte er.
Die Frau versuchte ebenfalls ihr Glück, jedoch vergeblich. Auch andere probierten, und schließlich brachen sich nahezu alle Menschen im Abteil an dem dänischen Mädchennamen schier die Zunge ab. Jeder meinte, daß gerade er die richtige Aussprache gefunden habe, und alle vergnügten sich köstlich über das Ungeschick ihrer Nachbarn.
Der dicke Mann schüttelte den Kopf und lachte dem Mädchen zu. Dann gähnte er, legte den Kopf an der Schulter des Nebenmannes zurecht, blinzelte mit den Augen und schlief ein.
Nach und nach folgten die anderen Reisenden seinem Beispiel. Es wurde immer stiller im Abteil.
Der Zug fuhr durch einen Tunnel. Draußen war es stockfinster. Im Wagen warfen drei kleine Lampen ihr kümmerliches Licht auf die schlafenden Menschen.
Hanne sah aus dem Fenster. Im schwachen Lichtschein des Zuges konnte sie die Felswand vorübersausen sehen. Sie war ein wenig enttäuscht. Sie hatte sich in Kopenhagen schon lange auf die Riviera gefreut, auf das blaue Meer und die strahlende Sonne. In den letzten Tagen vor ihrer Abreise war sie oft an einem Reisebüro in der Vesterbrostraße vorbeigegangen, wo ein großes Plakat aus Cannes im Fenster hing: Vor einem Hintergrund von blauem Meer und blauem Himmel spielten drei Mädchen in roten Badeanzügen mit einem großen, bunten Wasserball.
— Und jetzt! Etwas wärmer als in Dänemark, aber ebenso grau. Die Leute gingen genau so gekleidet wie zu Hause, in schwarzen Wintermänteln und wollenen Schals. Sie dachte mit einem Lächeln an den blauen Badeanzug, der in ihrem Koffer obenauf lag. Für den hatte sie jedenfalls nicht so bald Verwendung. Eeh, so ein Betrug!
Trotzdem freute sie sich. Die Schulzeit war vorüber. Jetzt begann das Leben, und noch dazu in einem fremden Land. Seit dem Tode ihres Vaters vor zwei Jahren (die Mutter war schon gestorben, als Hanne noch ein kleines Mädchen war), hatte sie bei einer Bekannten gewohnt, einer älteren, strengen Dame, die auf ihre Weise vielleicht Hanne gern hatte, es aber nicht richtig zeigen konnte. Zwar hatte Hanne bei ihr keine Not gelitten, doch vermißte sie dort so mancherlei, vor allem die Liebe der Eltern und das Verständnis anderer Menschen für ihre Lage. Es war in den zwei Jahren viel an ihr bemängelt worden; nun sehnte sie sich etwas nach aufmunternden Worten und Anerkennung.
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