„Danke.“
„Kein Problem.“ Sie fasst in ihren tiefen Ausschnitt und holt eine zerknitterte weiße Visitenkarte hervor. „Wenn du etwas brauchst, ruf mich an.“
Sie beugt sich über den Tresen und hält mir die Karte zwischen zwei Fingern hin. Ich nehme sie und lese den Namen.
Venus Bisset – Managerin
„Vielen Dank“, sage ich und halte die Karte hoch.
„Oh, Süßer“, schnurrt sie. „Jemand mit so schönen Augen wie du darf mich immer anrufen. Tag und Nacht.“ Sie zwinkert mit ihren lächerlich langen falschen Wimpern, die aussehen, als wären Raupen auf ihren Lidern mutiert.
„Danke, Venus.“
„Ich danke dir . Ich habe noch nie zuvor jemanden mit zwei verschiedenen Augenfarben gesehen. Es ist, als ob Himmel und Hölle einen persönlichen Krieg führen und die andere Seite erobern wollen“, sagt sie mit scheinbarer Ehrfurcht vor meiner genetischen Anomalität.
Ihr Blick schießt von meinem linken Auge, das hellblau ist, zu meinem rechten, das je nach Lichtverhältnissen grün oder fast bernsteinfarben ist. Ihre Aufmerksamkeit kehrt zum linken zurück. Das Blau scheint immer zu gewinnen.
„Welche Seite gewinnt?“, fragt sie, während ich mir wieder die Kapuze über den Kopf ziehe.
„Frag mich das nächste Woche.“
Sie lächelt spöttisch, leckt sich über die rot geschminkten Lippen und wühlt dann in einer Schublade herum, in der sich ein Stapel weiße Schlüsselkarten befindet. „Ich checke dich ein. Wie heißt du?“
Ich trete von einem Bein aufs andere und nenne ihr den Namen, unter dem ich seit jener Nacht bekannt bin. Aber dieser Name passt auch zu dem, zu dem ich geworden bin. „Bullseye. Aber nenn mich Bull.“
„Du redest nicht viel, was?“
Ich nicke kurz, denn sie hat recht. Ich fülle die Leere nicht mit Unsinn. Ich rede nur, wenn es nötig ist.
„Ich sorge dafür, dass du keine Probleme kriegst. Ich will keinen Ärger.“ Sie schiebt mir den Schlüssel zu und fragt nicht nach meinem Spitznamen.
„Ich auch nicht.“ Ich greife nach der Schlüsselkarte, doch Venus legt ihre Hand über meine. Ich balle die Hand sofort zur Faust, und mein ganzer Körper geht in Kampfbereitschaft. Doch ich atme kurz durch und zügle den Drang, Schmerz zuzufügen.
„Die Eismaschine ist gleich um die Ecke. Das Rauchen ist in allen Zimmern verboten.“ Man würde ja auch nicht wagen, diese reinliche Einrichtung zu verschmutzen.
Sie lässt meine Hand los und lächelt. „Genieß deinen Aufenthalt. Du hast Zimmer vierzehn. Wenn du mich brauchst, hast du meine Nummer.“
Ich ziehe meine Hand sofort zurück und lockere die Faust. Venus scheint von meinem merkwürdigen Verhalten unbeeindruckt.
Mit der Schlüsselkarte in der Hand bedanke ich mich bei Venus und gehe aus der Tür. Sobald ich draußen bin, atme ich ein paar Mal tief durch, um die wilden Dämonen in mir unter Kontrolle zu bringen. Berührt zu werden, überschreitet eine meiner Grenzen. Wenn man mich nicht berührt, gibt es keine Probleme.
Ich mag es nicht, wenn Menschen mir auf die Pelle rücken. Wenn man so lange im Knast war, vergisst man die Berührungen anderer Menschen und lernt, damit zu leben. Und nach einer Weile begann es, mir zu gefallen. Ich mochte die Einsamkeit, denn Berührungen schaffen Verbindungen zu anderen Menschen, und daran bin ich nicht interessiert. Ich reiße mich zusammen und gehe den betonierten Fußweg hinunter. Mein Zimmer ist die vorletzte Tür auf der linken Seite. Ich ziehe die Karte über den Sensor und warte auf das Piepen, das mir Einlass gewährt. Als ich die Tür aufschiebe, quietscht die Vier in meiner Zimmernummer plötzlich und verrutscht. Auf dem Kopf hängend schwingt sie hin und her. Ihr verfallener Zustand offenbart, auf was ich mich beim Eintreten gefasst machen muss.
Ohne weiteres Zögern betrete ich mein Zimmer. Es ist genauso, wie ich es erwartet habe – klein, einfach möbliert, mit angrenzendem Bad. Ich mache die Tür zu und verschließe sie. Dann streife ich die Stiefel ab und schalte die Wandheizung ein. Der rote Teppich ist schmutzig und die Brandflecken zeigen mir, dass den Mietern vor mir das Rauchverbot scheißegal war.
Ich gehe durchs Zimmer und ins Bad. Dort schalte ich das schwache Licht an und sehe, dass ich ein Duschbad, ein Waschbecken, einen Spiegel und eine Toilette habe. Ein paar billige Pflegeartikel sind ordentlich auf dem gerissenen Marmor der Abstellfläche arrangiert worden. Ich sehe die kleine Dusche an und weiß, dass ich sie am meisten genießen werde. Warm zu duschen, ohne ständig über die Schulter schauen zu müssen aus Angst, dass man wegen seiner Seife abgestochen oder gefickt wird, wird schön sein.
Ich ziehe mich aus, hänge meine Sachen an dem silberfarbenen Haken auf, und stelle das Wasser auf Heiß. Es ist mir egal, dass mir die Hitze auf der Haut brennt. Ich trete unter den Wasserstrahl, und das ständige Kältegefühl verschwindet langsam aus meinen Knochen, während ich mich von Seite zu Seite drehe.
Dass mir die einfachsten Freuden des Lebens genommen wurden, scheint unfair zu sein, aber ich habe es verdient. Ich habe alles verdient.
Als ich daran denke, wie ich jemandem die einfachsten, alltäglichen Annehmlichkeiten geraubt habe, habe ich plötzlich das Gefühl, dass ich dieses kleine Stück Glück nicht verdient habe. Ich verdiene kein Glück. Dieses Recht habe ich verwirkt, als ich den größten Fehler meines Lebens machte.
Ich kneife die Augen zusammen, während die Erinnerung über mich hereinbricht, und drehe den Wasserhahn auf Kalt. Ich lege die Handflächen an die geflieste Wand und lasse den Kopf zwischen meine ausgebreiteten Arme sinken. Die Silberkette baumelt wie ein Pendel um meinen Hals. Ich bete, dass das kalte Wasser meine Sünden wegwäscht, doch das tut es niemals. Es betont nur, dass ich, egal ob hinter Gittern oder in Freiheit, immer ein Sklave der Vergangenheit sein werde, und dass ich meine inneren Dämonen füttere.
Ich werde immer ein Gefangener des Tages sein, an dem ich eine Waffe nahm und kaltblütig einen Mann erschoss. Doch das Einzige, was ich bedauere, ist … dass ich erwischt wurde.
Dank meiner Reise ins Unglücksland bin ich ruhelos und habe den Kopf nicht frei. Vielleicht könnte ich eine Pussy aufreißen, um etwas Druck loszuwerden. Aber ich hatte so lange keine Frau mehr, dass ich mich wahrscheinlich in dem Moment blamieren würde, in dem sie sich auszieht. Und dafür bin ich auch nicht hier. Ich muss einen Job erledigen.
Mich in Selbstmitleid zu suhlen, tut mir nicht gut, also nehme ich meine Schlüsselkarte und schiebe sie in die Gesäßtasche meiner immer noch feuchten Jeans. Ein paar Blocks weiter habe ich einen Goodwill Laden gesehen. Ich hoffe, dass Laufen gegen meine Niedergeschlagenheit hilft und das Gefühl von Verzweiflung verschwindet.
Nicht, dass es jemals so ist. Aber vielleicht ist es heute anders.
Draußen ist es dunkel, und der Starkregen hat sich in ein Nieseln verwandelt. Mit gesenktem Kopf gehe ich zu dem Geschäft. Ich habe kein Interesse an irgendwelchem Ärger. Ich habe vor, mich in den Schatten zu halten, denn ich will auf keinen Fall zurück in den Knast.
Man sagt, dass das Gefängnis einen Mann verändert. Und das stimmt. Ich habe das schnell gelernt, als mein achtzehnjähriges Ich in eine Jauchegrube von Verkommenheit geworfen wurde und für sich selbst kämpfen musste.
Ich dachte, dass ich ein Gangster wäre und ich mit meinem großen Mundwerk durchkommen würde, aber das brachte mir nur drei gebrochene Rippen, zwei blaue Augen und eine andere Verwendung für meinen Mund ein. Von dem Tag an verrohte die Verbindung zu meiner Vergangenheit, und ich war nicht länger Cody Bishop. Ich war Bullseye. Diesen Spitznamen gaben mir die brutalen Kerle, die meine Mitbewohner waren, als sie von meiner Geschichte erfuhren.
Читать дальше