Colas Gutman
Der Stinkehund im Zirkus
Aus dem Französischen von Julia Süßbrich
Mit Illustrationen von Marc Boutavant
Was ist das denn für ein Zirkus vor der Mülltonne von Stinkehund und Platti?! Eine Karawane hat davor angehalten, und ein Mädchen wühlt in der Tonne, in der die beiden Freunde zusammen leben.
»Nee, bloß keine Hemmungen, fühl dich ganz wie zu Hause!«, ruft Platti.
»Oh! Entschuldigung, ich hatte euch nicht gesehen«, sagt das Mädchen. »Ich heiße Stange. Könnt ihr mir vielleicht mit einem Baguette aushelfen?«
»Das hier ist eine Mülltonne und keine Bäckerei«, meckert Platti.
Arme kleine Stange , denkt Stinkehund. Sie muss sehr hungrig sein, wenn sie schon in Mülltonnen nach Essen sucht.
»Was ist denn passiert, Stange?«, erkundigt er sich.
Stange antwortet: »Ich brauche Futter für meinen Elefanten.«
»Der ist bestimmt rosa«, kichert Platti.
»Ja, genau! Woher weißt du das?«, staunt das Mädchen.
Aus der Karawane tritt ein rosa Elefant hervor, der überall zusammengeflickt ist.
Stange stellt ihn vor: »Das ist der Elefant Dombi.«
»Oh, der hat ja große Ohren!«, bemerkt Stinkehund.
Mit Bedauern erklärt das Mädchen: »Aber fliegen kann er leider nicht. Mein Papa, der Zirkusdirektor Herr Wassernudel, hat ihn eingestellt, damit mehr Publikum kommt. Das klappt nur nicht so richtig.«
Ein kleiner Mann mit einem großen Hut brüllt in ein großes Mikrofon. Das ist Herr Wassernudel. Er fordert gerade die Passanten auf, die Vorstellung zu besuchen.
»Kommen Sie! Bewundern Sie den Zirkus Wassernudel mit seinem hilflosen Elefanten, seinem eingegipsten Trapezkünstler und seinem nicht lustigen Clown! Und für die besonderen Fans gibt es in der Pause kalte Nudeln! Kommen Sie und applaudieren Sie …«
Platti flüstert: »Das ist ja nicht besonders einladend.«
»Ich habe immer davon geträumt, einmal in den Zirkus zu gehen«, erwidert Stinkehund.
»Und von welchem Geld?«, fragt Platti.
»Meine Mama hat mir einen Logenplatz im Zirkus Carbonara spendiert«, wirft der frisierte Pudel ein, der gerade vorbeiläuft.
»Das ist der Konkurrenz-Zirkus«, erklärt Stange leise. »Die verteilen in der Pause Spaghetti Carbonara. Dagegen kommen wir Wassernudels nicht an.«
Dieses Mädchen braucht unsere Hilfe , denkt Stinkehund.
»Also, ich, ich würde deinen Zirkus gerne mal sehen«, sagt er zu Stange.
Doch das Mädchen entgegnet: »Ach, wisst ihr, wir sind mit unseren Kunststücken noch gar nicht so weit, dass ihr euch wirklich etwas darunter vorstellen könnt.«
»Dann warten wir noch«, sagt Stinkehund.
»Ihr seid nett! Ich kann euch in der Zwischenzeit ja schon mal die Kulissen zeigen«, schlägt Stange vor.
»Haltet euch an dem losen Faden von meinem Pulli fest«, sagt Stange.
Viele Zuschauer kehren auf dem Weg zum Zirkus um, weil sie glauben, sie hätten sich verlaufen. Das Zirkuszelt der Wassernudels steht zwischen Reifen und Autoschrott auf einer Brachfläche.
»Der Zirkus ist eine große Familie. Ich stelle euch allen vor«, erklärt Stange.
Eine Familie! Mein Traum! , denkt Stinkehund, der nie eine Familie hatte.
Stinkehund und Platti klettern in einen Wohnwagen, in dem Herr Wassernudel gerade Essen kocht.
Traurig sagt er: »Kommt herein, kommt herein. Der Zirkus Wassernudel ist nicht mehr das, was er einmal war. Kein Hackfleisch mehr, nicht mal mehr eine Dose Tomatensoße. Und das alles nur wegen diesem verdammten Carbonara!«
Der Zirkus ist eine große Familie , wiederholt Stinkehund noch einmal in Gedanken.
»Papa?«, fragt er.
»Wen hast du mir denn da mitgebracht?«, fragt Herr Wassernudel.
»Neue Freunde«, antwortet Stange.
»Tja, jetzt, wo wir so tief gesunken sind, kommt es auf einen Stinkedoofen mehr oder weniger auch nicht mehr an …«, findet ihr Papa.
Papa kennt meinen Spitznamen , freut sich Stinkehund.
Platti sagt zur kleinen Stange: »Deinem Papa geht es wohl nicht gut.«
»Genau, Papa geht es nicht gut«, klagt Stinkehund.
»Mach nicht so einen Zirkus!«, ermahnt ihn Platti.
Und dann erzählt Stange die lange Geschichte vom Niedergang des Zirkus Wassernudel.
»Alles fing damit an, dass der Trapezkünstler sich ein Bein gebrochen hat. Und dann hat sich der Jongleur einen Finger verrenkt, als er dem Trapezkünstler das Bein eingipsen wollte. Unser Tiger ist von unserem Löwen gebissen worden, und unser Löwe ist an einem Schokoriegel erstickt. Und dann hat mein Papa beschlossen, Nudeln zu kochen, weil er kein Popcorn mehr für die Kinder hatte. Aber da wir noch nicht mal Butter an die Nudeln tun konnten, waren die Nudeln so trocken, dass ein kleines Mädchen fast daran erstickt wäre.«
»Na, so was«, sagt Platti.
»Aber das ist noch nicht alles. Kaum war Herr Carbonara in der Stadt, sind ihm die Musiker, Zauberer und Tiere für ’nen Appel und ’n Ei hinterhergelaufen. Und ich bin alleine mit Papa, dem Elefanten Dombi, dem eingegipsten Trapezkünstler, dem nicht lustigen Clown und ein paar hinkenden Enten übrig geblieben.«
»Und deine Mama? Wo ist die denn?«, fragt Stinkehund.
»Die ist weggegangen. Die arbeitet jetzt bei Herrn Carbonara, für ein paar Schinkenwürfelchen.«
»Deine Geschichte ist sehr traurig, liebes Mädchen«, sagt Platti. »Können wir dir vielleicht helfen?«
»Zirkus ist leider kalter Kaffee. Die Kinder spielen doch heute lieber an ihren Computern, und mit uns rechnet keiner mehr.«
Nein, der Zirkus ist doch eine große Familie , denkt Stinkehund. Ich werde Stange helfen, das alles wieder geradezubiegen.
Читать дальше