Eine ferne Turmuhr schlug zwölf, gleich darauf schlug eine andere in der Nähe und dann gleich zwei auf einmal. Als der letzte Schlag verhallt war, dachte er: »Nun ist es aus, es ist mißlungen, sie kommt nicht mehr!« Trotzdem war er entschlossen zu bleiben, bis es Tag wurde. In solchen Fällen muß man Geduld haben.
Er hörte, wie es ein viertel, dann ein halb, dann dreiviertel schlug, und schließlich wiederholten sämtlich Uhren, eine nach der anderen, eins, wie sie zwölf Uhr geschlagen hatten.
Er hatte die Hoffnung schon verloren und zerbrach sich den Kopf darüber, was wohl geschehen sein könnte. Plötzlich blickte ein Frauenkopf durch die Fenster und fragte:
»Sind Sie da, Bel-Ami?«
Er fuhr atemlos empor:
»Sind Sie das, Suzanne?«
»Ja, das bin ich.«
Die Türklinke ging nicht sofort auf und er konnte sie nicht rasch umdrehen, inzwischen wiederholte er:
»Ach … Sie sind es … da sind Sie, Gott sei Dank … kommen Sie herein.«
Sie stieg ein und sank in seine Arme.
Er rief dem Kutscher zu: »Vorwärts!« Und die Droschke setzte sich in Bewegung. Vor Aufregung konnte sie kein Wort hervorbringen.
Er fragte:
»Nun erzählen Sie, wie ist es bei Ihnen zu Hause hergegangen?«
Beinahe ohnmächtig murmelte sie:
»Oh! Es war furchtbar, besonders mit Mama.«
Er war unruhig und zitterte:
»Erzählen Sie? Was hat Ihnen Ihre Mama erzählt, erzählen Sie mir alles.«
»Oh, es war entsetzlich. Ich kam in ihr Zimmer und habe ihr die Sache vorgetragen, wie ich sie mir im voraus vorbereitet hatte. Da wurde sie ganz blaß und schrie:
‘Niemals, nie im Leben!’
Ich habe geweint, ich wurde böse, ich habe geschworen, daß ich nur Sie heiraten würde. Ich habe gedacht, sie würde mich schlagen. Sie wurde wie wahnsinnig. Sie erklärte, daß man mich morgen schon ins Kloster schicken würde. Ich habe sie noch nie in einem solchen Zustande gesehen. Da kam Papa, der offenbar gehört hatte, wie sie alle ihre Dummheiten sagte. Er wurde nicht so wütend wie sie, aber er erklärte, Sie seien keine gute Partie für mich. Sie machten mich auch wütend, und da schrie ich noch lauter als sie. Da befahl mir Papa mit einem dramatischen Gesichtsausdruck, der ihm gar nicht stand, hinauszugehen. Das brachte mich zum Entschluß., mit Ihnen zu fliehen. Nun! Hier bin ich. Wo fahren wir hin?«
Er hielt ihre Taille sanft umschlungen; und er hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu, sein Herz klopfte, ein zorniger, neidischer Haß stieg in ihm gegen diese Leute auf. Doch er hielt die Tochter. Nun würden sie sehen.
»Es ist zu spät,« antwortete er, »wir können keinen Zug mehr erreichen. Wir fahren mit diesem Wagen nach Sevres und dort übernachten wir, und morgen früh reisen wir nach La Roche Guyon weiter. Es ist ein hübsches Dorf an der Seine, zwischen Montes und Bonnieres.«
Sie murmelte:
»Ich habe aber gar keine Sachen mit.«
Er lächelte mit sorgloser Miene.
»Ach was, das richten wir drüben irgendwie ein.«
Der Wagen rollte durch die Straßen. Georges nahm die Hand des jungen Mädchens und begann sie langsam und rücksichtsvoll zu küssen. Er wußte nicht, was er ihr sagen sollte, denn er war an platonische Zärtlichkeiten nicht gewöhnt. Plötzlich schien es ihm, als wenn sie weinte.
Erschrocken fragte er:
»Was haben Sie, meine liebe Kleine?«
Sie antwortete mit schluchzender Stimme:
»Meine arme Mutter, wenn sie bemerkt hat, daß ich fort bin, wird sie jetzt sicher nicht schlafen können.«
Und in der Tat schlief ihre Mutter nicht.
Sobald Suzanne das Zimmer verlassen hatte, stand Frau Walter ihrem Manne gegenüber und fragte ängstlich und niedergeschmettert:
»O Gott! Was soll das nur bedeuten?«
»Das bedeutet,« rief Walter wütend, »daß dieser Intrigant ihr den Kopf verdreht hat. Er war es doch, der sie bewegen hat, dem Cazolles abzusagen. Natürlich findet er die Mitgift hübsch!«
Er begann wütend im Zimmer hin und her zu laufen und fuhr fort:
»Du auch, du hast ihn immerfort ins Haus gelockt, du hast ihm geschmeichelt, du hast ihm den Hof gemacht, du fandest nie genug schöne Worte für ihn. Bel-Ami hier, Bel-Ami dort, — so ging es vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Nun hast du den Lohn dafür.«
»Ich?« stammelte sie totenblaß, »ich lockte ihn ins Haus?«
Er schleuderte ihr ins Gesicht:
»Jawohl, du! Ihr alle seid toll auf ihn, die Marelle, Suzanne und viele andere. Glaubst du, daß ich nicht merkte, wie du keine zwei Tage aushalten konntest, ohne daß er hierherkam?«
Sie richtete sich mit tragischer Miene empor:
»Ich erlaube Ihnen nicht, mit mir so zu reden. Sie vergessen, daß ich nicht wie Sie in einem Laden erzogen bin.«
Er stand zuerst starr und verblüfft da, dann stieß er ein wütendes »O Gott!« aus, ging hinaus und warf die Tür hinter sich zu.
Sobald sie allein war, ging sie unwillkürlich zum Spiegel, um zu sehen, ob nicht etwas an ihr verändert wäre, so unglaublich, so ungeheuerlich erschien ihr das Geschehene. Suzanne war in den Bel-Ami verliebt und Bel-Ami wollte Suzanne heiraten! Nein! Sicher irrte sie sich, es konnte nicht wahr sein. Das junge Mädchen hatte sich in den schönen jungen Mann vergafft, es war ganz natürlich; sie hoffte, ihn zum Gatten zu bekommen; sie hatte es sich in den Kopf gesetzt! Aber er? Er konnte doch unmöglich die Hand im Spiel haben! Sie grübelte, verwirrt, wie man überhaupt vor einem bevorstehenden Unglück verwirrt ist. Nein, Bel-Ami konnte nichts von Suzannes Streich wissen.
Sie sann lange über die mögliche Gemeinheit oder Unschuld dieses Mannes nach. Oh! welch ein treuloser Schurke war er, wenn er diesen Streich vorbereitet hat! Was würde dann geschehen? Wie viele Gefahren und wie viele Qualen glaubte sie dann vorauszusehen.
Wenn er nichts wußte, dann konnte alles noch gerettet werden. Man würde mit Suzanne für sechs Monate verreisen und damit wäre alles zu Ende. Wie konnte aber sie ihn dann wiedersehen? Sie liebte ihn noch immer. Diese Leidenschaft hatte sich in sie hineingebohrt wie Pfeilspitzen, die sich nicht wieder herausreißen lassen. Leben ohne ihn war unmöglich. Dann lieber sterben.
Ihre Gedanken schweiften in dieser Angst und Ungewißheit herum. Ein heftiger Schmerz drückte auf ihren Kopf. Ihre Gedanken wurden sorgenvoll, trübe und quälten sie furchtbar. Verzweifelt suchte sie die Sache zu ergrübeln, und die Unwissenheit: machte sie nervös. Sie sah nach der Uhr, es war eins vorbei. Sie sagte sich: »So kann es nicht bleiben, sonst werde ich wahnsinnig. Ich muß mir Gewißheit verschaffen. Ich werde Suzanne wecken und sie ausfragen.«
Dann ging; sie ohne Schuhe, um keinen Lärm zu machen, mit der Kerze in der Hand nach dem Zimmer ihrer Tochter. Sie öffnete leise die Tür, trat herein und sah nach dem Bett. Es war nicht angerührt. Zunächst begriff sie nichts und dachte, das Mädchen spräche vielleicht noch mit seinem Vater. Dann aber stieg plötzlich in ihr ein furchtbarer Verdacht auf und sie eilte zu ihrem Gatten. Blaß und keuchend stürzte sie in sein Zimmer. Er lag im Bett und las.
Er war bestürzt.
»Was ist denn? Was ist los?«
Sie stammelte:
»Hast du Suzanne gesehen?«
»Ich? Nein. Wieso?«
»Sie ist … sie ist … sie ist durchgegangen. Sie ist nicht in … in ihrem Zimmer.«
Mit einem Satz sprang er auf den Teppich, schlüpfte in seine Pantoffeln und stürzte ohne Unterhosen, im bloßen Hemd, das um ihn herumflatterte, in das Zimmer seiner Tochter. Sobald er es selbst gesehen hatte, hegte er keinen Zweifel mehr. Sie war entflohen.
Er sank in einen Sessel und stellte die Lampe vor sich auf den Boden hin.
Seine Frau kam nach. Sie stammelte;
»Nun? … Was jetzt? …«
Er hatte keine Kraft mehr zu antworten. Er war nicht mehr wütend, er seufzte nur:
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