Dann rief er die Präsidentin an. – »Liebe Mama, eure Helene wollte mir die Adresse einer guten Handschuhwäscherin geben –« – – »Schade, lieber Harald. Sie ist vor anderthalb Stunden auf eine Depesche hin, daß es ihrem Verlobten schlechter ginge, nach Pasewalk Hals über Kopf abgereist. Ich habe den Eindruck, daß sie nicht mehr zu uns zurück will, und werde mich daher leider nach Ersatz umsehen müssen.« – »Hat sie Dir die Depesche gezeigt?« – »Nein. – Und – merkwürdig! – Vorhin vertraute mir Marie an, daß sie dieses Telegramm für lediglich erfunden hielte. Du scheinst ja auch diesen Verdacht zu hegen.« – »Vielleicht, Mama. – Wiedersehen.«
Frau Auguste Harst hatte all dies mitangehört und meinte nun ganz verwirrt:
»Junge, hältst du etwa das Stubenmädchen für – für die Mörderin?«
»Aber Mutter! – Ausgeschlossen! Ich sage Dir schon zur rechten Zeit, wer mir mein Lebensglück vernichtet hat und – wen ich vernichten werde!«
Frau Harst eilte nach oben in die Küche an den geliebten Kochherd. Harald ging langsam in seine Bibliothek hinüber. Hier hing an der Wand ein Haustelephon, das nach dem Gärtnerhäuschen führte. Er bestellte den Jungen zu sich. – Karl Malke sah heute wie ein junger Geck aus. Harst schenkte ihm stets seine meist noch tadellosen Sachen, die ein gefälliger Onkel Schneidermeister dem langen, dünnen Burschen dann umarbeitete.
Der Junge war natürlich Feuer und Flamme für sein »neuestes Metier«, wie er sich vornehm ausdrückte. Er durfte Detektiv spielen, – kein Wunder, daß ihm dies zusagte! – Zehn Minuten später verließ er eiligst das Haus, fuhr stolz im Auto nach dem Stettiner Bahnhof und traf hier mit Komiker-Maxe zusammen, der noch seine Verkleidung als älterer, einfacher Mann trug.
»Ich beneide Sie, Herr Schraut,« meinte der Junge ehrlich. »Ich möchte für mein Leben gern an Ihrer Stelle nach Pasewalk fahren. Es wird dort mächtig interessant werden. Wissen Sie, ich denk’ mir, der Herr Assessor hat den Bräutigam im Verdacht –«
»Abwarten, Karl – Unser Auftraggeber wird im übrigen wohl auch hier noch für Dich lohnende Arbeit finden.«
Karl verabschiedete sich. »Unsre Pflegerin bäckt heute zu Mittag Kartoffelpuffer. Da muß ich zur Zeit zurück sein. Kalt sind die Dinger wie Leder. – Na – alles Gute, Herr Schraut!«
Er schritt dem Ausgang der Vorhalle zu. Dann kam ihm der Gedanke, sich doch noch schnell mal von ferne die im Wartesaal sitzende Helene Burg anzusehen. Er machte kehrt. Oben in der Halle vor den Bahnsteigen blieb er jedoch plötzlich stehen und trat dann hinter den Zeitungskiosk. Er hatte Schraut bemerkt, der im Gespräch mit einem sehr großen, hageren, elegant gekleideten Herrn vor der Tür des Waschraumes stand. Harst hatte ihm nun im Vertrauen mitgeteilt, daß der ehemalige Schauspieler von der Polizei gesucht würde und daß daher niemand etwas von dessen Anwesenheit im Hause erfahren dürfte. Karl hegte aus demselben Grunde ein gelindes Mißtrauen gegen Komiker-Maxe, der doch wohl verschiedenes auf dem Kerbholz haben mußte. Als er ihn nun in so eifriger Unterhaltung mit dem langen Hageren sah, regte sich in ihm sofort der Wunsch, hier mal auch ohne Auftrag handelnd aufzutreten. Er wartete also, bis die beiden sich mit einem Händedruck trennten, und schlich dem Hageren dann nach. Dieser schlenderte der Friedrichstraße zu und stellte sich hier vor ein von Passanten dicht belagertes Schaufenster, in dem als Reklame für ein Spielwarengeschäft mechanische Puppen allerhand Künste zeigten. Der aufgeweckte Junge ließ kein Auge von dem Zylinder-Onkel, wie er ihn bereits getauft hatte, da der Lange eine glänzende Angströhre, dazu auch noch Monokel trug. Karl betrachtete ihn nun sehr genau aus nächster Nähe. Der Hagere hatte ein gelbliches, schmales Gesicht, aufgedrehten schwarzen Schnurrbart und sehr starke schwarze Augenbrauen. Er sah ganz wie ein Italiener aus – nach des Jungen Ansicht.
Dann beobachtete er etwas, das er noch nie in seinem Leben mitangesehen hatte. Nur gelesen hatte er darüber in Zeitungen und Büchern. Doch nun konnte er sich selbst davon überzeugen, daß es wirklich solche Leute mit so unheimlicher Fingerfertigkeit gab.
Sein Ehrgeiz aber wurde noch reger. Er mußte unbedingt herausbekommen, wo dieser lange Zylinder-Onkel wohnte, denn er wollte Harst keine halben Neuigkeiten überbringen. Mochten die Kartoffelpuffer auch kalt werden! –
Harst wunderte sich, daß Karl noch immer nicht zurück war. Die Uhr ging nun bereits auf vier. Er saß jetzt an dem im Bibliothekszimmer stehenden Stutzflügel und spielte Wagner – den Fliegenden Holländer –, wenn auch nur mit leisem Anschlag. Er liebte die Musik, und er besaß ein Gehör, das ihm gestattete, alles auswendig zu spielen. Seit Margas Ermordung berührte er heute die Tasten wieder zum ersten Mal. Vordem hatte er stets am Flügel phantasiert, wenn er eine besonders schwere berufliche Arbeit vorhatte. Niemals flogen ihm bessere, klarere Gedanken zu, als wenn seine Ohren von einer Flut von Tönen umrauscht wurden. Es war, als ob die Töne Brücken bauten von einer Schlußfolgerung zur anderen.
Er spielte – und sein Denken umspielte die bisherigen Erfolge seiner Nachforschungen.
Plötzlich stand er auf. – Er mußte herausbringen, wer die unkenntlich gemachte Tote war, – diese herausgeputzte Frau, die ein Taschentuch bei sich getragen, das dem auf dem Korbsessel in allem glich: Stoff, bunter Rand, Patschuligeruch und rote Fettschminke-Flecken! – Er mußte es herausbringen, koste es, was es wolle. Geld – davon besaß er ja übergenug.
Es klopfte an der Tür nach dem Flur. – Endlich – es war Karl Malke. Harst sah ihm sofort an, daß er besondere Nachrichten mitbrächte.
»Setz’ dich! Leg los! Du bist vollgepfropft mit Neuigkeiten,« meinte er freundlich.
»Merken Sie mir das denn an, Herr Assessor? – Ne – hab’n Sie ’n Blick! – Es stimmt nämlich!« Und er erzählte, daß der Hagere vor dem Schaufenster einer Dame aus der Handtasche die Börse herausgefischt und daß jener darauf bei Kempinski zu Mittag gegessen hätte. »Ein Glück, daß ich so ne anständige Kluft habe. Sonst hätten sie mich bei Kempinski nich reingelassen. Ich habe dort auch gegessen. Von den zwanzig Mark zu Auslagen, die Sie mir gaben, ist nun nicht mehr viel übrig, denn nachher ging der Lange noch ins Tauentzien-Cafee, dann schließlich nach Hause. Er wohnt Kantstraße 5, drei Treppen in einem Pensionat. Ich hab’ aus dem Sohn vom Hauswart dort auch den Namen rausgelockt? Violinenkünstler Arpad Tzigan. – Ein netter Violinenkünstler! Taschendieb ist er – nischt weiter!«
»Du hättest Dir diese Mühe sparen können, Junge,« meinte Harst. »Trotzdem, wenn du wieder mal zu solchen Feststellungen Gelegenheit hast, spiele nur abermals den heimlichen Verfolger, – zur Übung! – Den Rest von den zwanzig Mark behalte. Hier hast Du weitere Fünfzig für notwendige Auslagen.«
Karl schob etwas enttäuscht ab. Er hatte gehofft, Harst würde den Hageren von ihm beobachten lassen. Er bedauerte, jetzt wieder »ohne Arbeit« zu sein. Das Abenteuer heute hatte ihm so viel Spaß gemacht, wenn ihn auch die Kellner so merkwürdig lächelnd bei Kempinski und im Tauentzien betrachtet hatten.
4. Kapitel
Nächtliche Streife
Inhaltsverzeichnis
Harst saß wieder am Flügel. Er spielte jetzt Beethoven. Dabei überlegte er, ob er sich mit diesem Arpad Tzigan, der ihm nach des Jungen Beschreibung ein völlig Fremder war, näher beschäftigen solle. Dann sagte er sich, daß es in keinem Falle etwas schaden könnte, wenn er sich diesen »Künstler« selbst einmal ansehen würde, zumal er sich ohnedies für verpflichtet hielt, bei der Kriminalpolizei den Taschendieb anzuzeigen. Da er annehmen konnte, daß der Gauner den gegen Abend wieder lebhafter werdenden Straßenverkehr für sein nur in dichten Menschenmassen auszuübendes Gewerbe ausnutzen würde, schrieb er zunächst an Stolten einen Rohrpostbrief und erklärte darin, aus eigener Tasche eine Belohnung von 5000 Mark dem zuzusichern, der über die verstümmelte Tote nähere Angaben liefern könnte. – Dann fuhr er nach der Kantstraße, kaufte sich dort bei einem Optiker zur Vorsicht eine Sonnenbrille mit grauen Gläsern, um sich für alle Fälle wenigstens etwas unkenntlich zu machen. Es war dies sein erster Versuch auf dem Gebiete der Verkleidungskunst. Es blieb nicht der letzte. Später, als er auch hierin Besseres als der beste Schauspieler leistete, belächelte Harst noch oft diese harmlose graue Brille.
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