Kingsley Stevens
MEINE BLAUÄUGIGE PANTHERIN
Liebesroman
© 2020
édition el!es
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Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-95609-321-0
Coverfotos:
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»»Verdammt, lassen Sie mich los! Ich kann allein laufen!«
Sascha beobachtete die große, dunkelhaarige Frau, die von zwei Justizwachtmeistern in den Gerichtssaal geführt wurde und sich gegen jede Berührung heftig wehrte, obwohl sie bereits Handschellen trug.
Sie starrte die Beklagte so lange fasziniert an, bis sie auf die Anklagebank gezwungen wurde. Die Angeklagte blickte um sich wie ein wildes Tier, ihre blauen Augen schossen Blitze in alle Richtungen, wütende Blitze, die auch Sascha kurz streiften. Aber sie verweilten nicht auf ihr. Sie hetzten wieder durch den Raum, wie auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit.
Sascha war Jurastudentin, und sie saß nicht zum ersten Mal als Zuschauerin in einem Gerichtssaal. Sie hielt sich regelmäßig hier auf. Einerseits, weil es zu ihrem Fach gehörte, weil sie Richter, Anwälte und das Rechtssystem in der Praxis studieren wollte, andererseits aber auch, weil sie sich als Gerichtsreporterin etwas zu ihrem kargen Stipendium hinzuverdiente.
Meist waren die Verhandlungen wenig aufregend, Sascha konzentrierte sich darauf, ob sie anstelle des Richters oder der Richterin dieselbe Entscheidung getroffen hätte oder ob das Gesetz noch andere Möglichkeiten bot, die ihr lieber gewesen wären.
Oft fand sie die Urteile zu hart. Ihr erschien es so offensichtlich, dass die Verurteilten selbst nur Opfer waren, Opfer ihrer Herkunft, Opfer ihrer Erziehung – oder von deren Fehlen –, Opfer von Gewalt, die sie seit ihrer Kindheit erfahren hatten und nun gegen andere ausübten. Sie kannten nichts anderes.
Manchmal saßen sie nur wie ein Häufchen Elend auf der Anklagebank, manchmal waren sie frech und unverschämt, manchmal auch aggressiv – aber so wild wie die große Frau mit den blauen Augen, deren dunkle Haare ungebändigt ihren Kopf umgaben und ihr ein noch wilderes, ungezähmtes Aussehen verliehen, waren sie selten. Sie schien keinerlei Beschränkung akzeptieren zu wollen.
Der Richter eröffnete die Verhandlung, und der Staatsanwalt las die Anklage vor. Danach rief der Richter die Angeklagte als Zeugin auf, um sie zur Anklage zu befragen. »Ihr Name ist Tyra Horvath?«
»Sie kennen doch meinen Namen!«, fauchte die Angeklagte zum Richterstuhl. »Sie haben ihn schließlich oft genug aufgeschrieben. Und im Übrigen: Tyr reicht. Den Rest können Sie sich schenken.«
Es entstand ein leichter Tumult. Der Verteidiger musste seine Mandantin mühsam besänftigen.
Der Richter war ein ruhiger Mann, die Gelassenheit selbst. Er attackierte die Angeklagte nicht, sondern versuchte, sich auf zivilisierte Art mit ihr zu verständigen. Viel Erfolg hatte er damit allerdings nicht. Er seufzte. »Sie sind uns keine Unbekannte, das ist wahr. Ihr Auszug aus dem Strafregister füllt Seiten. Schon als Jugendliche sind Sie verurteilt worden. Kürzlich wurden Sie sogar des Mordes angeklagt, aber man konnte Ihnen nichts nachweisen, also wurden Sie freigesprochen. Im Zweifel für den Angeklagten. Sie haben uns diese Milde nicht gedankt. Sie sitzen schon wieder hier.«
»Ich habe euch nicht gezwungen, mich herzubringen!«, fauchte Tyra Horvath wütend.
»Nein, Sie haben sich mit allen Mitteln dagegen gewehrt, das ist wahr. Haben Sie den Einbruch verübt, dessen Sie angeklagt sind und bei dem der Besitzer des Hauses verletzt wurde, oder nicht?«
Die Angeklagte schwieg.
»Bitte weisen Sie Ihre Mandantin an zu antworten, Herr Verteidiger«, sagte der Richter.
Der Verteidiger blickte verzweifelt auf die Frau, die größer war als er, und dann hilfesuchend zum Richter zurück.
»Sie wollen sich also nicht zu dem Vorwurf äußern?«, folgerte der Richter und blickte die Angeklagte noch einmal fragend an, gab ihr eine letzte Gelegenheit.
Sie nutzte sie nicht.
»Ihr verstocktes Schweigen nimmt das Gericht nicht für Sie ein«, sagte der Richter. Es klang väterlich besorgt.
Von der Anklagebank kam ein unterdrücktes Knurren.
Für Sascha klang es wie »Fick dich!«, aber sie konnte es kaum glauben.
Der Richter auch nicht. Er warf einen Blick auf die Angeklagte. »Wie bitte?«
Der Verteidiger erhob sich halb. »Nichts. Sie hat nichts gesagt, Herr Vorsitzender.«
»Dann hat sie wohl nur Magenschmerzen«, vermutete der Richter versöhnlich.
Der Verteidiger wirkte erleichtert. »Ja, das ist richtig. Es geht ihr nicht gut.«
»Aber sie kann der Verhandlung folgen?«
»Natürlich.« Der Verteidiger setzte sich.
Der Richter fuhr mit der Verhandlung fort, verhörte die Zeugen und verkündete dann die Mittagspause.
Sascha verließ den Gerichtssaal, nachdem sie noch einmal einen Blick auf die Angeklagte geworfen hatte. Die hatte die ganze Verhandlung mit unbewegter Miene verfolgt. Sascha fragte sich, was in ihr vorging. Eigentlich hätte Sascha am Nachmittag Vorlesung in der Uni gehabt, aber sie entschied sich dagegen. Sie wollte lieber die Verhandlung verfolgen und das Urteil abwarten.
Es sah nicht gut aus für die Angeklagte. Die Zeugen bestätigten, dass sie im Haus gewesen war. Ihre Fingerabdrücke fanden sich überall. Der Besitzer des Hauses hatte bei dem Überfall eine Platzwunde davongetragen, und sein Blut hatte sich an ihren Händen wiedergefunden. Wegen des Schlages auf den Kopf, der ihn ohnmächtig zu Boden geschickt hatte, konnte er sich an nichts mehr erinnern.
Bei der Polizei hatte die Angeklagte behauptet, sie hätte dem Verletzten nur helfen wollen, aber vor Gericht wiederholte sie diese Aussage nicht. Der Richter wies sie mehrmals darauf hin, dass nur Aussagen, die im Gericht gemacht wurden, verwertet werden konnten, aber es schien ihr egal zu sein.
Sascha fragte sich, warum sie sich nicht verteidigte. War ihre Aussage vor der Polizei eine Lüge gewesen? Etwas, das sie sich schnell hatte einfallen lassen und nun nicht mehr behaupten wollte, weil es falsch war? Aber warum? Sie hatte ihr Leben lang gelogen. Auf einmal sollte es ihr etwas ausmachen?
Sascha setzte sich in die Gerichtskantine und trank einen Kaffee – oder das gefärbte Wasser, das sie hier so nannten. Von der Idee, hier auch zu essen, hielt sie diese Erfahrung ab. Da war ja selbst die Mensa noch besser. Sie würde heute Abend bei sich im Studentenwohnheim etwas kochen.
Der Nachmittag verlief ebenso unbefriedigend wie der Vormittag. Der Richter vertagte die Verhandlung, da er noch mehr Zeugen hören wollte. Als die Angeklagte an Sascha vorbei aus dem Gerichtssaal geführt wurde, zischte sie Sascha an: »Was starrst du mich die ganze Zeit so an, du grünäugiges rothaariges Monster? Hast du nichts Besseres zu tun?«
Sie hatte es also bemerkt. Sascha blieb kopfschüttelnd stehen.
Tyra Horvaths Aggressivität füllte immer noch den Raum, selbst als die Angeklagte schon längst verschwunden war.
Sie hatte eine außergewöhnliche Präsenz.
»Harry, kann ich dich mal sprechen?«
Der Lokalredakteur des Stadtanzeigers hob abwesend den Blick. »Ja?«
Sascha trat auf seinen Schreibtisch zu, der über und über mit Korrekturzetteln bedeckt war. »Harry, könnte ich – meinst du, es wäre mal möglich –«
»Komm zur Sache, Schätzchen.« Harry blickte zum zweiten Mal auf. »Verschwende nicht meine Zeit mit deinem Herumstammeln. Hast du die Berichte aus dem Gericht von heute schon geschrieben?«
Harry war ein bärbeißiger, liebenswürdiger Charakter, der selten zugab, wie sehr er gewisse Menschen mochte.
»Ja – ähm – also . . .« Sascha wand sich. »Eigentlich war ich nur bei einer Verhandlung, und da wollte ich –«
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