Wie aus einem Hohlspiegel blickt uns daraus ein erschreckendes Zerrbild an. Mag sein, daß es in ehrlicher Überzeugung gezeichnet wurde. Mag sein, daß die einzelnen Züge lebenden Modellen nachgebildet wurden. Aber ist das jüdische Menschentum schlechthin die notwendige Auswirkung des »jüdischen Blutes«? Sind Großkapitalisten, schnoddrige Literaten und die unruhigen Köpfe, die in den revolutionären Bewegungen der letzten Jahrzehnte eine führende Rolle spielten, die einzigen oder auch nur die echtesten Vertreter des Judentums? In allen Schichten des deutschen Volkes werden sich Menschen finden, die diese Frage verneinen: Sie sind als Angestellte, als Nachbarn, als Schul- und Studiengefährten in jüdische Familien hineingekommen; sie haben dort Herzensgüte, Verständnis, warme Teilnahme und Hilfsbereitschaft gefunden; und ihr Gerechtigkeitssinn empört sich dagegen, daß diese Menschen jetzt zu einem Pariadasein verurteilt werden. Aber vielen andern fehlen diese Erfahrungen. Vor allem wird der Jugend, die heute von frühester Kindheit an im Rassenhaß erzogen wird, die Gelegenheit dazu abgeschnitten. Ihnen gegenüber haben wir, die wir im Judentum groß geworden sind, die Pflicht, Zeugnis abzulegen.
Was ich auf diesen Blättern niederschreiben will, soll keine Apologie des Judentums sein. Die »Idee« des Judentums zu entwickeln und gegen Verfälschungen zu verteidigen, den Gehalt der jüdischen Religion darzulegen, die Geschichte des jüdischen Volkes zu schreiben – zu all dem sind Berufenere da. Und wer sich darüber unterrichten will, der findet eine ausgebreitete Literatur vor. Ich möchte nur schlicht berichten, was ich als jüdisches Menschentum erfahren habe; ein Zeugnis neben andern, die bereits im Druck vorliegen oder in Zukunft erscheinen werden: Wem es darum zu tun ist, sich unbefangen aus Quellen zu unterrichten, dem will es Kunde geben. –
Es war zunächst meine Absicht, die Lebenserinnerungen meiner Mutter aufzuzeichnen. Sie war immer unerschöpflich im Erzählen, und wenn ich auch nicht hoffen konnte, daß ihr in ihrem hohen Alter – sie steht im 84.Jahr – noch die Niederschrift gelingen würde, so wollte ich doch versuchen, mir erzählen zu lassen und ihre Worte möglichst getreu wiederzugeben. Aber auch das erwies sich als sehr schwierig. Es fanden sich nicht genug ruhige Stunden dafür. Ich mußte bestimmte Fragen stellen, um in den Strom der Erinnerungen soviel Ordnung und Klarheit zu bringen, wie für einen fremden Leser zum Verständnis unerläßlich war, und oft war es nicht möglich, greifbare und zuverlässige Tatsachen festzustellen. Ich stelle im folgenden die kurzen Aufzeichnungen im Anschluß an die Gespräche mit meiner Mutter voran. Darauf soll ein Lebensbild meiner Mutter folgen, wie ich es selbst zu geben vermag.
Breslau, 21.IX.33
Edith Stein
I. Aus den Erinnerungen meiner Mutter
Inhaltsverzeichnis
Der Vater meiner Mutter, Salomon Courant, ist i.J. 1815 geboren. Wo seine Familie herstammt, daran erinnert sich meine Mutter nicht mehr; sie meint, von der französischen Grenze. Das ist aber wohl nur eine Vermutung, die durch den französischen Namen nahegelegt wurde. Der kann aber ebensogut von der damals üblichen Münzbezeichnung »Preußisch Courant« herrühren. Später wohnten seine Eltern in Peiskretscham Oberschlesien. Er war Seifensieder und »Lichtzieher«. Auf seinen Wanderungen kam er ins Haus meiner Urgroßeltern in Lublinitz O. S. Er sah meine Großmutter, die damals 12 Jahre alt war, und sie gefiel ihm gleich. Von da an kam er jedes Jahr. Als sie 17 Jahre alt war, wurden sie verlobt, und im Jahr darauf war die Hochzeit. Das war das Jahr 1842.
Der Urgroßvater Joseph Burchard stammte aus der Provinz Posen, ebenso seine Frau Ernestine geb. Prager. Im ersten Jahr ihrer Ehe lebten sie in Hundsfeld i. Schlesien. Als ihr Häuschen dort niederbrannte, gingen sie nach Lublinitz. Der Urgroßvater war viele Jahre Kantor und Vorbeter. Als er diesen Posten aufgeben mußte, richtete er eine Wattefabrik ein. Er hatte einen Betsaal im eigenen Hause. Dort kamen an den hohen Festtagen alle Schwiegersöhne zum Beten zusammen. Er war ein sehr strenger Vater und Lehrer. Die Enkelsöhne mußten zu ihm kommen, um beten zu lernen. Er schalt viel, schlug aber nie. Und nie ging ein Kind ohne ein Geschenk aus dem Hause. Die Urgroßeltern hatten 11 Kinder, 4 Söhne und 7 Töchter. Vom 70. an wurden die Geburtstage als große Feste gefeiert, zu denen sich möglichst alle Kinder und Enkel einfanden. In einem Tafellied, das ihr Sohn Emanuel zu einer solchen Gelegenheit dichtete, hieß es: »Selten gab's wohl einen Vater, der seiner Kinder so bedacht, anscheinend rauh und doch so zarter Sorge über sie gewacht.« – »In den 78 Jahren, / die Dir heut verflossen sind, / hast Du Gottes Huld erfahren, / der Dir gnädig stets gesinnt. / Immer treu steht Dir zur Seite / Großmama in Freud' und Leide. / Sie schützt Dich und ist auch uns allen so gut, / vor Unglück und Kummer hält sie uns in Hut.« Dies hat ein Enkelsohn, Jakob Radlauer, gedichtet, der Sohn der ältesten Tochter Johanna, der Liebling der ganzen Familie. Er lebte als hochangesehener Kaufmann in Breslau und starb vor einigen Jahren als Greis von 85 J., nachdem er seine beiden Söhne im Weltkrieg verloren hatte. (Der ältere, Ernst Radlauer, stand bei Ausbruch des Weltkriegs als Jurist im Verwaltungsdienst in Ostafrika. Es gelang ihm, in abenteuerlicher Verkleidung nach Deutschland zurückzukehren, um wichtige Papiere zu retten und ins Heer einzutreten.) Die Urgroßeltern lebten als alte Leute in großer Armut, aber sie wußten immer noch etwas für Ärmere zu ersparen. Wenn die Urgroßmutter Kaffee kochte – damals noch eine Kostbarkeit –, legte sie jedesmal ein paar Bohnen beiseite und sammelte so die ganze Woche. Jeden Freitag bekam eine arme Frau das Gesammelte. Alle abgetragenen Sachen aus dem eigenen Haushalt und aus denen der verheirateten Töchter wurden sorgfältig ausgebessert, um sie an Arme zu verschenken. Bei diesen Näharbeiten mußten die kleinen Enkelinnen tüchtig helfen. Die Großmutter versammelte sie um sich, leitete sie zur Arbeit an und wachte streng darüber, daß alles mit der größten Sorgfalt gemacht wurde. Von 6 Jahren an mußten die Kinder Säume nähen, die größeren bekamen die langen Nähte anvertraut. Ganze Aussteuern für befreundete Familien wurden in dieser Nähschule gearbeitet.– In den letzten Lebensjahren führten die Urgroßeltern keinen Haushalt mehr. Das Essen wurde ihnen von den Großeltern gebracht. Das ganze Leben hindurch hatte der Urgroßvater seine Frau zärtlich geliebt, nie geduldet, daß sie eine grobe Arbeit anrührte. In seiner letzten Krankheit wurde er von Wahnideen geplagt und faßte Verdacht gegen sie, so daß man sie schließlich aus dem Haus nehmen mußte. Er starb mit 89 Jahren. Seitdem lebte die Urgroßmutter bei ihrer Tochter Adelheid Courant, meiner Großmutter. Sie war schon leidend, als sie herüberzog, und ist viele Jahre von ihrem Schwiegersohn und den Enkelinnen mit der größten Liebe und Sorgfalt gepflegt worden – ihre Tochter hat sie lange überlebt. Bis zuletzt war sie geistig völlig rege, sie ließ sich gern vorlesen – dazu wurden noch die Urenkelinnen angestellt, die am Ort lebten oder zu den Ferien kamen – und folgte mit dem größten Interesse. Sie wurde 93 Jahre alt; sie mußte sehr viel körperlich leiden und fühlte sich auch sehr bedrückt durch die viele Mühe, die sie verursachte. Meine Mutter hat sie immer eine »wahrhaft fromme Frau« genannt. In der Synagoge und auf dem Friedhof betete sie mit der größten Sammlung und Innigkeit, ebenso am Freitagabend, wenn sie die Sabbathlichte anzündete und die zugehörigen Gebete sprach. Am Schluß pflegte sie hinzuzufügen: »Herr, schicke uns nicht so viel, wie wir ertragen können.«
Meine Großmutter Adelheid Burchard war von Kindheit an gewöhnt, viel zu arbeiten. Sie und ihre Schwester Johanna mußten die jüngeren Geschwister hüten. Und weil das kleine Gehalt, das ihr Vater als Kantor hatte, für den Unterhalt der großen Familie nicht ausreichte, mußten sie sehr zeitig aufstehen, um in den frühen Morgenstunden feine Handarbeiten zu machen und dadurch etwas zu verdienen.
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