Stefan Hilbert/Thomas Metzner
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1. Auflage 2021
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-039093-5
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-039094-2
epub: ISBN 978-3-17-039095-9
mobi: ISBN 978-3-17-039096-6
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Wir schreiben dieses Buch in bewegten Zeiten. Mit Beginn des Jahres 2020 verbreitete sich ein neuartiges Virus über die Welt. Anfangs noch unterschätzt, wendete sich das Blatt dann schlagartig, als die Infektionszahlen exponentiell anstiegen und neben dem Gesundheitswesen die gesamte Weltwirtschaft in Mitleidenschaft gezogen wurde. Der zur Vermeidung der Virusausbreitung erforderliche Shutdown in vielen Staaten zeigte die Verletzlichkeit des Wirtschaftssystems. Globalisierung, Reisefreiheit, Vernetzung von Lieferketten und Finanzmärkten, ein vertraut gewordenes System kam ins Wanken. Stabilität und Kontrolloptimismus erwiesen sich im ersten Moment des Schocks als Illusion. 1 1 Der besseren Lesbarkeit geschuldet, und ausschließlich aus diesem Grund, verwenden wir in diesem Buch die männliche Form.
Die Verflechtung weltweiter Finanzströme führt dazu, dass auch die Finanzmärkte unmittelbar und heftig auf Unsicherheit reagieren. Eine Pandemie ist nicht per se etwas völlig Neuartiges, in der Menschheitsgeschichte sind immer wieder Pandemien aufgetreten und die spanische Grippe ist eine der bekannteren in der jüngeren Geschichte. Der Ausbruch der Covid19-Pandemie macht aber deutlich, dass Menschen keine Unsicherheiten mögen – mit allen Konsequenzen, bis hin zur Negation.
Kampf, Flucht oder Totstellen sind tief verankerte Verhaltensmuster von Menschen in Schocksituationen. Panik (verkaufen) und Aktionismus (umschichten von Depots), aber auch ein Verharren (aussitzen) kann an den Börsen beobachtet werden. Veränderung und die damit einhergehende Unsicherheit sorgt für Unbehagen, da nicht abschätzbar ist, was folgt. Angst greift in solchen Situationen um sich und das bisherige Entscheidungsverhalten ändert sich schlagartig. »Angst essen Seele auf«, so lautet der Titel eines berühmten Filmmelodrams des deutschen Regisseurs Rainer Werner Fassbinder aus dem Jahr 1974. Und Angst (oder besser Panik) herrschte im Februar/März 2020 ( Abb. E.1) auch an den deutschen Börsen. Emotionen übernahmen die Regie und nur bei wenigen Marktteilnehmern überwog das rationale Kalkül.
Märkte spiegeln die Reaktionen von Marktteilnehmern wider. Marktteilnehmer sind aber nicht nur rational-ökonomisch handelnde Individuen, sondern eben Menschen mit Stärken und Schwächen, kognitiven Fähigkeiten, aber auch Vergesslichkeit, Unaufmerksamkeit – und manchmal begehen Menschen Dummheiten (wir wollen niemandem zu nahe treten, auch wir Autoren sind Menschen und wundern uns manchmal über uns selbst). Thaler und Sunstein unterteilen die Entscheider in ihrem Buch »Nudge« in die 2 Gruppen »Econs« und »Humans« (Thaler & Sunstein, 2012, S. 16). Wobei diese Unterteilung nicht bedeuten muss, dass der eine Teil der Menschheit den »Econs« und der andere Teil den »Humans« angehörte, vielmehr sind beide Spezies in jedem von uns enthalten.
Abb. E.1: 5-Jahres-Chart des DAX 2016-2020 (Quelle: https://www.boerse-stuttgart.de/de-de/produkte/indizes/846900-dax, Abruf 18.08.2020)
Mit der Behavioral Economics (Verhaltensökonomie) ist seit den 1970er Jahren eine neue Disziplin in den Wirtschaftswissenschaften entstanden, die sich eben mit diesen Sachverhalten auseinandersetzt. Die Verhaltensökonomie versucht, die unterschiedlichen Menschenbilder, die in Ökonomie, Psychologie und Soziologie existieren, wieder zu vereinen. Im Verhalten von Menschen wird nach Mustern und psychologischen Motiven gesucht, um zu zeigen, »wo diese im ökonomischen Kontext relevant sind« (Beck, 2014, S. 9).
Wir haben dieses Buch in drei Hauptteile mit folgender Logik gegliedert:
Im Hauptkapitel I wollen wir uns den Grundlagen menschlichen Entscheidens widmen. Dabei werden psychologische Grundmotive (viele von uns sind etwa Kontrollfreaks!) ebenso aufgegriffen wie die grundlegende Funktionsweise des Gehirns. Vielleicht ist unser bisweilen suboptimales Entscheidungsverhalten darauf zurückzuführen, dass wir neben einem Softwarefehler (Verhaltensmuster oder Gebrauch des Gehirns) auch über einen Hardwarefehler (Aufbau und Funktionsweise des Gehirns) verfügen, der uns bei Finanzentscheidungen dazwischenfunkt.
Jeder wird auch schon einmal erlebt haben, dass Hunger oder Durst schlechte Begleiter von Entscheidungen sind. Das Gehirn reagiert sensibel, wenn die Nährstoffversorgung nicht gewährleistet ist. Sinkt der Blutzuckerspiegel ab, schaltet das Gehirn in den Überlebensmodus und Bereiche, die viel Energie erfordern (wie komplexe Entscheidungen) werden zuerst in den Standby-Modus versetzt. Die Selbstbeherrschung (verortet im dorsolateralen Präfrontalcortex), wichtig für geplante Entscheidungen wie eine langfristige Kapitalanlage, wird heruntergefahren und das emotionale Verlangen (angesiedelt im ventromedialen Präfrontalcortex) übernimmt das Kommando ( Abb. E.2). Der sofortige Kick im Hier und Jetzt genießt dann eine höhere Präferenz, als dies unter normalen Umständen sowieso schon der Fall ist, als geduldiges Warten auf den gleichen Kick in der Zukunft.
In der Ökonomie wird dieser Themenkomplex zeitinkonsistente Präferenzen genannt (Beck, 2014, S. 212). Der Homo oeconomicus hat derartige Probleme nicht. Für ihn ist heute das Warten von beispielsweise einem Monat auf eine Auszahlung gleichwertig mit dem einmonatigen Warten auf die gleiche Zahlung in drei Jahren. In beiden Fällen wird für das Warten der gleiche Zins angesetzt. In der Realität haben Menschen aber meist eine höhere Gegenwartspräferenz für Zahlungen und werden auf die lange Frist geduldiger, was nur mit unterschiedlichen Zinsen erklärt werden kann.
Abb. E.2: Wie viel Homo oeconomicus ist möglich? (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Hare, Camerer & Rangel, 2009, S. 646 ff.)
Zudem gelangt ein Großteil der Informationen, die Menschen mit ihren Sinnesorganen aufnehmen, nicht ins aktive Bewusstsein. Wahrnehmung erfolgt erst, wenn Menschen (und damit auch Entscheider) bewusst auf Informationen oder Reize aus der Umwelt achten (Kiesel, o.J.). Bisweilen sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Das Zusammenwirken der fünf Sinne (Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Tasten) und des Gehirns verdeutlicht, dass Menschen großes Potenzial für Schlamassel beim Entscheiden haben. Wenn zu den fünf klassischen auch noch der sechste Sinn, die Intuition, hinzukommt, wird das Grundproblem deutlich: Entscheidungen werden von allen Sinnen beeinflusst und damit ist der Entscheidungsprozess hinreichend komplex.
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