Sie wollte eine Zigarette. Sie hatte keine. Wunderbar. Sie würde gehen und sich welche kaufen müssen. Es war erst acht Uhr, noch früh genug, um die nähere Umgebung zu erkunden.
Draußen auf der Straße wandte Evelyn sich – es war ein schöner Abend, und die Straßen, durch die sie gekommen war, waren unerfreulich gewesen – nach Osten, um tiefer in das einzudringen, was eine Wohngegend sein musste. Es gelang ihr zunächst, langsam zu gehen, während sie die Namen der Bäume und Blumen nannte, den feinen Sprühregen der Rasensprenger gegen Gesicht und Arme wehen spürte, überall ein schwingendes Pulsieren von Tönen, wie Abendgrillen. Früher als ihr recht war, fand sie einen Laden, aber da sie fürchtete, er könnte am Sonntagabend nicht mehr lange geöffnet haben, trat sie ein. Eine schweigsame, müde Frau bediente sie unverzüglich, und Evelyn kaufte mehrere Packungen Zigaretten und eine Flasche Sherry. Als sie wieder auf die Straße trat, wollte sie noch nicht umkehren. Hinter der nächsten Kreuzung wurde die Straße, die sie gekommen war, enger und stieg steil an, so dass ihr der Ausblick versperrt war. Neugierig ging sie weiter. Oben auf dem kleinen Hügel blieb sie, seltsam atemlos, stehen. Die Straße verzweigte sich jenseits der Hauptstraße hin zu drei kurzen Reihen fahler Backsteinbungalows, kein Baum mehr. Am Ende war die Wüste, unvermittelt eben, leblose Meilenweite, bis sie sich anhob und in die Berge überging. Eine unsinnige Angst, Evelyn so wesensfremd wie ein Hitzeblitz am Sommerhimmel, durchfuhr ihren Körper. Einen Augenblick lang konnte sie sich nicht rühren. Dann drehte sie sich, das Verlangen zu laufen unterdrückend, langsam um und ging zum Haus zurück.
Frances Packer war in der Diele, doch Evelyn schlug die Tasse Tee, die sie ihr anbot, aus.
»Möchten Sie nicht die Zeitung mit nach oben nehmen?«, schlug Frances vor. »Wir sind damit durch.«
»Danke, aber …«
»Nehmen Sie sie doch.«
Es war zu geringfügig, um abzulehnen; also trug Evelyn die unerwünschte Zeitung die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Sie riskierte einen Blick auf den Reisewecker neben ihrem Bett, nahm ihn auf und hielt ihn ans Ohr. Sie hatte nicht vergessen, ihn aufzuziehen. Er tickte mit präziser Regelmäßigkeit an ihrem Ohr. Wie war das möglich, dass sie nur zwanzig Minuten fortgewesen war? Unwirsch stellte sie den Wecker wieder hin und begann sich auszuziehen.
Gebadet und bettfertig stand Evelyn am Fenster und sah durch den dichtbelaubten Baum hinaus in den Himmel, der noch transparent war vom letzten anhaltenden Abendlicht. In Sicherheit nun, den Tag wie eine Tür sorgfältig hinter sich abgeschlossen, konnte Evelyn über sich selbst lächeln. Sie konnte sich an keine Nacht der letzten Jahre erinnern, in der sie vor Mitternacht im Bett gewesen wäre. Jetzt war es noch nicht einmal neun Uhr, und sie wehrte sich gegen den Schlaf wie ein Kind im Sommer, das nicht einschlafen will, bevor es dunkel ist. Warum? Es war ihr gutes Recht, müde zu sein. Es war ein langer Tag gewesen, dieser letzte Tag der langen sechzehn Jahre, die sie hierher gebracht hatten. Sicher konnte sie jetzt schlafen. Daran war nichts Unrechtes.
Ann überließ Walter den Wagen und ging den Weg hinauf zum Angestellteneingang. Innen stand die schale Hitze des Tages, es stank nach Messingaschenbechern, nach Schweiß und Schuhen. Aber die Angestellten der Nachtschicht, die sich um das Schwarze Brett drängten, vor der Stechuhr Schlange standen oder in den brüchigen Ledersesseln saßen, waren nach dem Tagschlaf ausgeruht, frisch rasiert oder geschminkt, in sauberen Hemden, gebügelten Hosen und auf Hochglanz gewichsten Stiefeln. Lärmendes Stimmengewirr, Geschichten aus der vergangenen Nacht, weil Samstag gewesen war; Erleichterung wegen der kommenden Nacht, weil Sonntag war. Gemeinsam entspannten sie sich, die Wechselmädchen, die Auszahler, die Kassiererinnen, die Spielhalter und die Abteilungsleiter.
»Wir sind wieder im Corral, Schätzchen!«, rief Silver Kay vom Cola-Automaten quer durch den Raum.
»Gott sei Dank nicht bei den Dollarautomaten«, sagte Ann, als sie sich zu Silver gesellte und einen Schluck von der Cola trank, die Silver ihr anbot.
»Für dich alles gut und schön. Du bist wieder auf der Rampe. Ich bin, verdammt, wieder unten.«
»Das magst du doch«, sagte Ann.
»Ich mag das. Ich mag das. Du bist nie unten.«
»Ich bin nicht groß genug«, sagte Ann.
»Das wäre kein Problem. Du bist bemerkenswert genug, Darling.«
»Danke«, sagte Ann und sah zu Silver auf, die in ihren hochhackigen Stiefeln über eins achtzig maß, fast ohne Hüften und mit unverschämtem Busen, ihr gebleichtes Haar fast so weiß wie der Zehn-Gallonen-Hut, der wie ein aufgehender Mond über ihren Schultern schwebte, »aber ich spiele nicht in deiner Liga.«
»Warum meldest du dich nicht an?«, schlug Silver vor. »Heute Nacht zu ermäßigten Preisen.«
»Tatsächlich?«
»Hm-hm.«
»Joe ist nicht da?«
»Und ich habe eine Flasche Scotch deiner Lieblingsmarke«, sagte Silver lächelnd.
»Vielleicht bin ich zu müde«, sagte Ann, aber sie spürte Silvers Augen von ihrem Hals bis zu ihren Schenkeln wandern – eine aufreizende und erlösende Verlockung. »Ich habe letzte Nacht wenig geschlafen.«
»Schlaf mit mir.«
»Gehst du runter in den Umkleideraum?«
»War ich schon.«
»Ich seh dich dann später«, sagte Ann.
Im Kellergeschoss traf sie Janet Hearle, die schon an dem offenen Spind stand, den sie gemeinsam benutzten.
»Ich war gerade oben im Lager und habe dir einen besseren Schurz mitgebracht«, sagte Janet. »Hier.«
»Danke. Wie ist die Lage?«
»Wir haben einen Termin für die Operation bekommen. Morgen in einer Woche.«
»Das sind gute Nachrichten«, erwiderte Ann. »Hast du dir schon freigenommen?«
»Meinst du, ich sollte fragen, Ann? Die könnten doch glatt sagen, ich bräuchte gar nicht wiederzukommen.«
»Aber du musst bei dem Baby sein«, protestierte Ann. »Frag Bill. Der wird das verstehen. Er setzt sich für dich ein.«
»Ich bin letzte Woche zweimal zu spät gekommen.«
»Dann bist du eben zu spät gekommen.«
»Ich kann es mir nicht leisten, den Job zu verlieren, Ann. Ich brauche das Geld. Und Ken kann sich freinehmen. Er hat das schon mit seinem Chef geregelt. Er kann zehn Tage freinehmen.«
»Zehn Tage sind doch nicht genug, oder?«
»Nein, aber dann wissen wir Bescheid. Wenn er dann noch lebt, wird er weiterleben.«
»Er wird leben«, sagte Ann.
»Dein Namensschild sitzt schief.« Janet löste das Plastikkärtchen: FRANK’S CLUB STELLT VOR (Bild eines Planwagens) ANN. Sie steckte es ordentlich über Anns linker Hemdtasche fest. »So.«
»Du siehst Bill doch heute Nacht. Fragen kostet nichts.«
Janet nickte unentschlossen. Sie schloss den Schrank ab. »Na, dann wollen wir mal.«
Ann hätte selbst mit Bill gesprochen, wenn es einfach nur die Beurlaubung gewesen wäre, die Janet schwanken ließ, aber zehn Tage nicht zu arbeiten, das bedeutete einen Verlust von rund hundert Dollar. Sie und Ken hatten die Operation vom letzten Jahr noch nicht abbezahlt. Sie kauften das Leben ihres Kindes auf Raten und hatten nicht einmal dreißig Tage Garantie. Ja, Frances hatte recht. Ann mochte das Glücksspiel nicht, aber die Leute, die ihm in FRANK’S CLUB frönten, waren wenigstens harmlos, auch wenn sie mehr verloren, als sie sich leisten konnten. Und schließlich kannten sie hier ihre Chancen. Große Schilder in den Waschräumen verkündeten: »Vergiss nicht: Wenn du lange genug spielst, verlierst du.« Und auf Handzetteln, die den Kunden gegeben wurden, wurden sorgfältig die Nachteile des jeweiligen Spiels erklärt. Natürlich war das alles PR, mit deren Hilfe das Establishment so tat, als sei dies nicht der TEMPEL DES MAMMONS in der Stadt von Dis. Trotzdem war es ehrliche Werbung. Keine Universität veröffentlichte die Chancen gegen das Lernen, kein Krankenhaus die Chancen gegen das Überleben, keine Kirche die Chancen gegen die Errettung der Seelen. Hier wenigstens wurden die Leute nicht für dumm verkauft. Man ließ sie wissen, dass niemand intelligent genug oder stark genug oder begnadet genug sei, um errettet zu werden. Dennoch spielten sie.
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