Spätestens mit der Veröffentlichung dieser Autobiografie wird klar, dass Manson die Mechanismen der Unterhaltungsindustrie nutzt, um sich Gehör zu verschaffen. Er weiß genau: Ein Buch, das sich über weite Strecken mit der detaillierten Schilderung exzessiver Sex- und Drogeneskapaden prominenter Menschen beschäftigt, vermarktet sich quasi von selbst. Die Entmystifizierung, die mit der Offenbarung seiner Kindheitsfotos und mancher Anekdoten wie den von den eher komischen Umständen seiner ersten Kontakte zum weiblichen Geschlecht einher geht, mag ihm dabei gar nicht ungelegen gekommen sein. Immerhin fordert er heute mehr denn je, man möge sich in Zukunft mehr mit der Qualität seines künstlerischen Schaffens beschäftigen als mit dessen Skandalträchtigkeit. Ob Manson es verstehen wird, die Abnutzung des Schockeffekts zu kompensieren und durch künstlerische Substanz allein seinen Popularitäts-Level zu halten, wird die Zukunft zeigen. Eines jedoch ist klar: Sein Werk – als eine Mischung aus Entertainment und philosophischem Inhalt – ist in dieser Form in der populären Musik im Moment nahezu konkurrenzlos. Vom Bubblegum-Hochglanz der Teenie-Bands bis hin zur weitgehend inhaltsfreien Musik von Kid Rock oder Limp Bizkit – die amerikanischen Charts sind geprägt von Bands mit einem philosophischem Tiefgang, der vergleichbar ist mit dem der bundesdeutschen Big-Brother-Sternchen. Gerade vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie wichtig der Erfolg eines popkulturellen Gegenpols wie Marilyn Manson ist.
Herbst 2000
1.: Der Mann, den ihr fürchtet
Von allen Dingen, die unter der Krümmung der Firmamente vor das Auge treten können, gibt es nichts, das den menschlichen Geist mehr in Erregung versetzt, das auf schändlichere Weise die Sinne entzückt, das noch mehr Entsetzen, mehr Schrecken oder Bewunderung auslöst, als jene Ungeheuer, Wunderwesen und Greuelgestalten, in denen wir die Kräfte der Natur in ihr Gegenteil verkehrt, verstümmelt und beschnitten sehen.
Pierre Boaistuau, Histoires Prodigieuses, 1561

Die Hölle, das war für mich der Keller meines Großvaters. Es stank dort wie in einer öffentlichen Toilette, und es war genauso schmutzig. Der nasskalte Betonboden war mit leeren Bierdosen übersät, und alles war von einem fettigen Film überzogen, der wahrscheinlich seit der Kindheit meines Vaters nicht mehr weggewischt worden war. Man konnte diesen Keller nur über wackelige Holzstufen erreichen, die lose an der rauen Steinwand befestigt waren, und außer für meinen Großvater war der Zutritt allen verboten. Das war seine Welt.
Von der Wand baumelte gut sichtbar eine abgenutzte rote Klistierspritze herab, ein Zeichen seines völlig unberechtigten Vertrauens darin, dass nicht einmal seine Enkel es wagen würden, diese Räume zu betreten. Weiter rechts stand ein verzogener, weißer Medizinschrank; in ihm lag ein Dutzend alter Schachteln mit Mailorder-Kondomen, die sich hart an der Grenze zur Auflösung befanden; eine gefüllte, rostige Dose mit Deospray für Frauen; eine Hand voll Latexhandschuhe, die Ärzte gewöhnlich bei Darmuntersuchungen verwenden; und eine Friar-Tuck-Spielzeugpuppe, aus der ein steifer Schwanz hervorsprang, wenn man ihren Kopf herunterdrückte. Hinter den Stufen verbarg sich ein Regal mit ungefähr zehn Farbdosen. Wie ich später entdeckte, enthielt jede von ihnen zwanzig Pornofilme im 16-Millimeter-Format. Das alles wurde gekrönt von einem schmalen, quadratischen Fenster. Es sah aus wie gefärbtes Glas, tatsächlich aber war es von grauem Ruß bedeckt, und wenn man da hindurch spähte, hatte man das Gefühl, als würde man aus der Dunkelheit der Hölle hinaufschauen.
Am meisten jedoch faszinierte mich die Werkbank. Sie wirkte alt und primitiv, als sei sie vor Jahrhunderten gezimmert worden. Darauf befand sich ein dunkeloranger zerfranster Läufer, der dem Haar einer Struwwelpeter-Puppe glich, nur mit dem Unterschied, dass er von den Werkzeugen, die jahrelang auf ihm herumgelegen hatten, völlig verschmutzt war. In die Bank war ziemlich ungeschickt eine Schublade eingebaut worden, die immer verschlossen blieb. Oben an dem Dachsparren hing ein billiger, lebensgroßer Spiegel mit einem hölzernen Rahmen, der nicht an der Wand, sondern an der Decke festgenagelt worden war – aus welchem Grund, darüber konnte ich nur spekulieren. Hier fingen mein Cousin Chad und ich an, jeden Tag auf immer riskantere Weise in das Doppelleben meines Großvaters einzudringen.
Ich war ein dürrer Dreizehnjähriger mit Sommersprossen und einem Suppentopfschnitt, den mir meine Mutter mit der Blechschere verpasst hatte; er war ein dürrer Zwölfjähriger mit Sommersprossen und Hasengebiss. Während wir aufwuchsen, war es unser sehnlichster Wunsch, später einmal als Geheimpolizisten, Spione oder Privatdetektive zu arbeiten. Um unserem Ziel näherzukommen, wollten wir uns in den entsprechenden Observationstechniken schulen – bis wir zum ersten Mal mit diesem Abgrund konfrontiert wurden.
Eigentlich hatten wir nur die Treppen hinunterschleichen und Großvater ausspionieren wollen, ohne dass er davon etwas merken sollte. Als wir aber erst einmal die Dinge entdeckt hatten, die dort verborgen waren, änderten sich unsere Motive. Wenn wir nach der Schule unsere Ausflüge in den Keller machten, waren wir Teenager-Jungs, die nach Pornografie suchten, um darauf abspritzen zu können. Zugleich aber empfanden wir für unseren Großvater auch eine morbide Faszination.
Fast jeden Tag machten wir neue und groteske Entdeckungen. Ich war nicht sehr groß, aber wenn ich vorsichtig auf dem hölzernen Stuhl meines Großvaters balancierte, konnte ich gerade in die schmale Lücke zwischen dem Spiegel und der Decke fassen. Dort fand ich einen Stapel bestialischer Schwarzweißbilder. Es waren keine Zeitschriftenfotos: Ganz offenbar handelte es sich dabei um einzeln nummerierte Aufnahmen, die sorgfältig aus einem Mailorder-Katalog ausgewählt worden waren. Darunter befanden sich Fotografien aus den frühen Siebzigern, auf denen Frauen mit gespreizten Beinen die Schwänze riesiger Hengste ritten und Schweineschwänze saugten, die wie weiche, fleischige Korkenzieher aussahen. Ich hatte schon einmal in Playboy oder Penthouse geblättert, aber das hier spielte in einer ganz anderen Liga. Das war nicht einfach nur obszön, sondern surreal – diese ganzen Frauen strahlten mit dem wirklich unschuldigen Lächeln von Blumenkindern in die Kamera, während sie den Tieren einen bliesen und sie fickten.
Hinter dem Spiegel waren auch Fetischmagazine wie Watersports oder Black Beauty versteckt. Anstatt die kompletten Hefte zu stehlen, nahmen wir eine Rasierklinge und schnitten bestimmte Seiten aus. Dann falteten wir sie in kleine Quadrate und versteckten sie unter den großen, weißen Felsen, die an der Auffahrt zur Garage meiner Großmutter standen. Jahre später, als wir an der gleichen Stelle nach ihnen suchten, waren sie noch immer da – verwittert, zerfranst, voller Schnecken und Regenwürmer.
An einem Herbstnachmittag, als Chad und ich nach einem besonders ereignislosen Schultag am Esszimmertisch meiner Großmutter saßen, wollten wir endlich herausfinden, was sich in der verschlossenen Schublade an der Werkbank befand. Stets darauf bedacht, ihre Brut zu mästen, stopfte uns Großmutter – sie hieß Beatrice – andauernd mit Fleischklößen und einem widerlichen Fruchtsirup voll, der größtenteils aus Wasser bestand. Sie stammte aus einer reichen Familie und hatte haufenweise Geld auf der Bank liegen, aber sie war so geizig, dass bei ihr eine Flasche Sirup monatelang ausreichen musste. Meistens trug sie kniehohe Strümpfe, die bis zu den Fußknöcheln heruntergerollt waren, und merkwürdige graue Perücken, die ihr offenkundig nicht passten. Die Leute haben mir immer gesagt, dass ich ihr ähnlich sehe, denn wir waren beide dünn und hatten den gleichen schmalen Gesichtsschnitt.
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