Ohne Rock’n’Roll würden wir wohl noch immer im Gleichschritt marschieren und uns in unserem Körper nicht wohlfühlen. Die Frage der sexuellen Orientierung wäre noch immer streng tabuisiert, und Schwule und Lesben würden weiterhin dafür bestraft, dass sie jemanden lieben, der dem eigenen Geschlecht angehört. So wie in Malaysia, wo Lady Gagas Hymne auf die sexuelle Befreiung, „Born This Way“, verboten wurde, obwohl sie damit voll auf der Linie von US-Präsident Barack Obama liegt, die er im Mai 2011 mit einer Erklärung zum „Lesbian, Gay, Bisexual, and Transgender Pride Month“ vorgab.
Es war Elvis, dessen Hüftschwung die erstarrten Verhältnisse so nachhaltig erschütterte, dass sich die Jugendlichen in den fünfziger Jahren von den Fesseln befreiten, die ihnen das prüde Amerika angelegt hatte – und dass es ihnen Teenager in aller Welt nachmachten. Es waren die Rolling Stones, die ihre weiblichen Fans in den Sechzigern so in Ekstase versetzten, dass sie sich vor lauter Aufregung ins Höschen machten und die Konzertsäle hinterher nach Urin stanken. Es war Patti Smith, die in den späten Siebzigern die Grenzen der von Männern dominierten Welt des Rock’n’Roll zum Einsturz brachte. Es waren die Punks, die Sicherheitsnadeln, Rasierklingen, Hundehalsbänder, Herren-Sakkos und Damen-Unterwäsche wild miteinander kombinierten und einen geschlechtsspezifischen Look mit Hilfe von Kurzhaarfrisuren und Tätowierungen aushebelten. Es war David Bowie, der seinen Gitarristen auf der Bühne küsste und sich öffentlich als bisexuell bekannte. Es war Kurt Cobain, der auch in Frauenkleidern auftrat, um die Geschlechtergrenzen zu verwischen und die gesellschaftlichen Machtverhältnisse in Frage zu stellen. Es war Madonna, die in den achtziger und neunziger Jahren ihre sexuellen Phantasien künstlerisch thematisierte und so ziemlich jedes Tabu verletzte, das noch existierte. Und es war nicht zuletzt Boy George, der der Welt zeigte, dass man anziehen kann, wonach einem gerade der Sinn steht, und dass man sein kann, wer man sein will.
Leider waren es aber auch die Spice Girls, die Girlpower als Marketing-Tool einsetzten, oder frisierte Knabenchöre wie Take That, die das Rad der Geschichte wieder zurückdrehten, und es sind Sängerinnen wie Britney Spears oder Christina Aguilera, die aktuell die Popmusik pornografisieren, indem sie die Bühne in einen Sex-Club verwandeln und den Eindruck erwecken, Frauen seien stets verfügbare Sexobjekte, die immer nur das eine wollten – sich lasziv wie Shakira in Reizwäsche an einer Stange räkeln oder sich wie Rihanna fesseln und auspeitschen lassen.
Die Gleichung Rock’n’Roll = Revolte geht zwar in Bezug auf Sexualität nicht (mehr) auf, doch solange wir Musik körperlich erleben, erfahren wir eben auch unseren Körper – und dieses Gefühl ist und bleibt einzigartig. You gotta Rock, I gotta Roll.
Sex, Love & Rock’n’Roll ist keine dröge Sexualfibel, sondern ein Aufklärungsbuch über Pop & Sex, das auf unterhaltsame und möglichst unmoralische Art Geschichten erzählt, die ich in all den Jahren gelesen, gehört und gesammelt habe. Statt den Zeigefinger zu erheben und vor Fremdgehern oder Hurenböcken, Vergewaltigern oder Kinderschändern zu warnen, habe ich mich darum bemüht, die Fakten so zu präsentieren, dass jeder sich selbst eine Meinung dazu bilden kann.
Da ich bestimmte Vokabeln verwende, wie sie in Rock- und Pop-Songs gang und gäbe sind, könnten zarte, unbescholtene Gemüter meine Sprache mitunter als obszön, ordinär oder zu offensiv empfinden. Im Zweifel für die Authentizität, habe ich mich jedoch dafür entschieden, es dabei zu belassen und den Szenejargon nicht ins Hochdeutsche zu übertragen. Ich bitte also um Vergebung, wenn in diesem Buch vom „Ficken“ die Rede ist – dieses Wort benutzt heute jede 16-Jährige so selbstverständlich wie meine Generation vom Schlafen spricht, wenn sie das Gegenteil meint.
Natürlich sollen auch die Liebe und die Romantik nicht zu kurz kommen. Die großen Dramen und Affären. Die Sinnlichkeit und die Erotik. Die Exzesse und die Orgien. Der Hardcore-Sex und das Bizarre. Willkommen in der Welt der Doktorspiele und des Gruppensex, der freizügigen Texte und gezielten Tabuverletzungen!
Willkommen in der Welt des Rock’n’Roll!
Hollow Skai
Kein Buch ohne Website: Mehr über Sex, Liebe und den verdammten Rest auf www.skaichannel.de
20th Century Boys
In ihrem Song „Born This Way“ proklamierte Lady Gaga 2011, dass es egal sei, ob jemand schwul, hetero- oder bisexuell ist, lesbisch oder transsexuell. Was jüngeren Pop-Fans, die sich selbst noch nicht im Klaren darüber sind, wie es um ihre eigene sexuelle Orientierung bestellt ist, ein notwendiger Befreiungsschlag zu sein schien, war in Wahrheit jedoch ein alter Hut. Denn spätestens seit David Bowie gehört das Spiel mit dem Verwischen der Geschlechtergrenzen zum Pop wie der Hüftschwung zum Rock’n’Roll oder ein Irokesenschnitt zum Punk.
Bevor Bowie zum androgynen Pop-Star mutierte, hatte er sich in Künstlerkreisen herumgetrieben und mit dem schwulen Schauspieler Lindsay Kemp eine kurze, aber herzzerreißende Affäre gehabt, in deren Verlauf Kemp sich die Pulsadern aufschnitt, als Bowie mit einer Bühnendesignerin anbandelte. Kemp machte ihn vertraut mit der schwulen Subkultur und der Ästhetik des Camp, doch es war wohl das Mannequin Amanda Lear, das ihn lehrte, aus der eigenen sexuellen Orientierung ein Geheimnis zu machen, das Männer wie Frauen fortan gleichermaßen faszinierte.
Amanda Lear, bei der noch immer gerätselt wird, ob sie einst ein Mann war, zierte das Cover des Roxy-Music-Albums For Your Pleasure, war neben Donna Summer und Marsha Hunt in Charles Wilps berühmtem Werbespot für Afri-Cola zu sehen und sowohl mit Bowie als auch mit dem Surrealisten Salvador Dalí liiert; sie inspirierte den aufstrebenden Pop-Star nachhaltig zur Kunstfigur Ziggy Stardust, einem Alien, das beide Geschlechter in sich vereinte.
Mit seiner Frau Angela führte Bowie eine „offene Ehe“ und tauschte nicht nur die Kleider, sondern auch die Liebhaber mit ihr. Zwar dementierte er später nachdrücklich, was Angela Bowie in ihrer Autobiografie ausgeplaudert hatte: dass sie ihn zusammen mit Mick Jagger im Bett erwischt habe. Doch dieses Gerücht hält sich bis heute, weil es eben auch dem damaligen Zeitgeist entsprach, nicht nur mit dem anderen Geschlecht Sex zu haben, sondern sich auch gegenüber dem eigenen zu öffnen.
Das Spiel mit der Androgynität blieb nicht auf Männer beschränkt. Patti Smith ließ sich von dem Fotografen Robert Mapplethorpe, mit dem sie zusammen war, bevor er seine Leidenschaft für Männer entdeckte, ohne Make-up und in Männerkleidern für das Cover ihres Debütalbums porträtieren. Und die Sängerin Annie Lennox karikierte nahezu auf jedem Album der Eurythmics die gewohnten Frauenbilder.
Bill Kaulitz, der Sänger der deutschen Teenie-Band Tokio Hotel, ist der bislang Letzte in einer langen Reihe androgyner Popstars. Als er sich 2003 für die Sat1-Casting-Show Star Search mit einem Song der Weather Girls, „It’s Raining Men“, bewarb, hatte er sich die Augen mit einem schwarzen Kajalstift gefärbt, und seine Frisur erinnerte an den Protagonisten der Kinder-TV-Serie Der kleine Vampir. Der Juror Hugo Egon Balder empfahl Kaulitz, in Richtung Comedy zu gehen, weil seine Stimme so „witzig“ sei, und allein Kollegin Blümchen erkannte sein Potential: „Du ersparst einer Plattenfirma viel Arbeit. Du bringst das alles schon mit.“
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