Alles bekommt erst dann einen inneren Wert und wird wirklich für dich, wenn du es durch freie Wahl erworben hast, und nicht, wenn es dir aufgedrängt worden ist. Willst du dir deiner Religion gewiss sein, musst du sie wählen. Willst du dir deiner Heimat gewiss sein, musst du sie wählen. Ja, willst du dir deiner Familie gewiss sein, musst du sogar diese wählen. Denn wenn du ohne Frage annimmst, was der Zufall dir gebracht hat, kannst du dir nicht sicher sein, ob es gut oder schlecht für dich, ob es die Wahrheit deines Lebens ist. Tritt einen Schritt zurück, aus allem heraus, was deine natürliche Umgebung, dein atavistisches Erbe ausmacht, das vom blinden und mechanischen Marsch der Natur erzeugt und dir aufgezwungen worden ist. Tritt in dich selbst ein und betrachte all diese Dinge ruhig und ohne Leidenschaft. Wäge sie gegeneinander ab und wähle frei. Dann kannst du wahrhaft sagen: „Das ist meine Familie, meine Heimat, meine Religion.“
Haben wir ein Stück Weges in uns zurückgelegt, entdecken wir, dass es in jedem von uns ein Bewusstsein gibt, das durch die Zeitalter hindurch gelebt und sich in vielen Formen offenbart hat. Jeder von uns ist in zahlreichen Ländern geboren worden, hat zu mancherlei Völkern gehört, an die verschiedensten Religionen geglaubt. Warum sollten wir das Letzte für das Beste nehmen? Die Erfahrungen, die wir während all dieser Leben in den verschiedensten Gegenden und Religionen gesammelt haben, sind in der inneren Kontinuität bewahrt, die durch alle Geburten anhält. Es gibt in uns viele Persönlichkeiten, die durch diese früheren Erfahrungen geschaffen wurden, und werden wir ihrer bewusst, ist es uns nicht mehr möglich, von einer bestimmten Form der Wahrheit als der einzigen Wahrheit zu sprechen, von einem Land als unserer einzigen Heimat, von einer Religion als der einzig wahren. Es gibt Leute, deren wichtigste Bewusstseinselemente offensichtlich zu einem anderen Land gehören als dem, worin sie geboren wurden. Ich habe welche getroffen, die in Europa geboren und dennoch ganz klar Inder waren. Ich bin anderen begegnet, die einen indischen Körper angenommen hatten und doch zweifellos Europäer waren. Unter den Japanern habe ich manche gesehen, die Inder, andere, die Europäer waren. Und wenn irgendjemand von ihnen in das Land oder die Kultur geht, womit er innerlich verwandt ist, fühlt er sich dort völlig zuhause.
Ist es dein Ziel, frei zu sein mit der Freiheit des Geistes, musst du dich von allen Banden lösen, die nicht zur inneren Wahrheit deines Wesens gehören, sondern unterbewussten Gewohnheiten entstammen. Willst du dich vollständig, absolut und ausschließlich dem Göttlichen weihen, tue es ganz und aufrichtig. Lass nicht Teile von dir hier und da verkettet bleiben. Du magst einwenden, es sei nicht leicht, mit allen Bindungen radikal zu brechen. Aber hast du in deinem Leben zurückgeblickt und die Veränderungen bemerkt, die in dir im Laufe weniger Jahre stattgefunden haben? Tust du dies, so fragst du dich fast immer, wie du nur so fühlen und handeln konntest, wie du es unter gewissen Umständen getan hast, und manchmal erkennst du dich in der Person, die du noch vor zehn Jahren warst, nicht mehr wieder. Wie willst du dich also an das binden, was war oder ist? Und wie willst du im Voraus festlegen, was in Zukunft sein kann oder nicht?
All deine Beziehungen müssen auf innerer Freiheit und Wahl neu begründet werden. Die Überlieferungen, in denen du lebst oder erzogen worden bist, sind dir durch den Druck der Umgebung, die allgemeine Vorstellung oder die Wahl anderer auferlegt worden. Da ist unweigerlich ein Zwangselement in deiner Zustimmung. Auch die Religion ist den Menschen auferlegt worden. Meist wird sie durch religiöse Furcht, spirituelle oder sonstige Bedrohung aufrechterhalten. Es darf aber in deiner Beziehung mit dem Göttlichen keinerlei Nötigung dieser Art geben. Sie muss frei sein, Ergebnis der Wahl deines Mentals oder Herzens, voll Enthusiasmus und Freude. Was für eine Verbindung ist das, von der man schaudernd sagt: „Ich bin dazu verpflichtet, ich darf nicht anders.“? Die Wahrheit leuchtet von selbst ein und braucht der Welt nicht auferlegt zu werden. Sie hat es durchaus nicht nötig, von den Menschen akzeptiert zu werden, denn sie besteht aus sich selbst. Sie hängt nicht davon ab, was die Leute sagen, bedarf keiner Zustimmung. Wer hingegen eine Religion gründet, braucht viele Anhänger. Macht und Größe einer Religion wird von den Menschen nach ihrer zahlenmäßigen Stärke bemessen, obwohl es darauf bei wahrer Größe nicht ankommt. Die Größe des spirituellen Lebens liegt nicht in der Zahl. Ich habe das Haupt einer neuen Religion gekannt, den Sohn ihres Gründers, und ihn sagen hören, dass die und die Religion soundso viele Jahrhunderte zu ihrer Errichtung gebraucht habe, während seine, erst 50 Jahre alt, schon über vier Millionen Anhänger habe. „Daran sehen Sie“, fügte er hinzu, „wie groß unsere Religion ist!“ Religionen mögen zwar ihre Größe nach der Zahl ihrer Anhänger berechnen, die Wahrheit aber bleibt immer die Wahrheit, auch wenn sie keinen einzigen Jünger hätte. Der Durchschnittsmensch wird von denen angelockt, die groß angeben. Er geht nicht dahin, wo die Wahrheit sich leise offenbart. Jene, die Großes vorgeben, müssen es laut proklamieren, denn wie könnten sie sonst die Menge anziehen? Die Arbeit, die unbekümmert um das getan wird, was die Leute davon halten, ist nicht sehr bekannt und zieht nicht so leicht Massen an. Allein die Wahrheit braucht keine Reklame. Sie verbirgt sich nicht, aber sie drängt sich auch nicht auf. Es genügt ihr, sich zu offenbaren, ohne sich um die Ergebnisse zu kümmern, ohne Beifall zu suchen oder Ablehnung zu meiden, weder verlockt noch verstört von der Billigung oder Missbilligung der Welt.
Wenn du zum Yoga kommst, musst du darauf gefasst sein, all deine mentalen Konstruktionen und alle Gerüste deines Vitals in die Brüche gehen zu sehen. Du musst bereit sein, in der Luft zu hängen, ohne alle Stütze außer deinem Glauben. Du wirst dein vergangenes Selbst mit all seinen Bindungen vollständig vergessen und aus deinem Bewusstsein zu reißen haben, um neu geboren zu werden, von aller Knechtschaft frei. Denke nicht mehr daran, was du einmal warst, sondern daran, was du zu werden strebst. Lebe ganz und gar in dem, was du verwirklichen willst. Wende dich von deiner toten Vergangenheit ab und blicke geradeaus in die Zukunft. Du wirst nur noch eine Religion, eine Heimat, eine Familie haben: das GÖTTLICHE.
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Kapitel 3
Ein fundamentaler Irrtum der Religion
Aus diesem Grund irren sich die Religionen immer – immer –, weil sie den Ausdruck einer Erfahrung standardisieren und als unwiderlegbare Wahrheit allen aufzwingen wollen. Die Erfahrung war echt, vollständig in sich selbst, überzeugend – für den, der sie hatte. Die Formel, die er daraus gemacht hat, war hervorragend für ihn. Aber sie anderen aufzwingen wollen, ist ein fundamentaler Irrtum, der immer ganz verheerende Folgen hat, die stets weit, sehr weit, von der Wahrheit wegführen.
Aus diesem Grund haben alle Religionen, so schön sie auch sein mögen, den Menschen immer zu den schlimmsten Exzessen geführt. Alle Verbrechen, alle Schreckenstaten, die im Namen der Religion verübt worden sind, gehören zu den dunkelsten Flecken in der menschlichen Geschichte, und das nur wegen dieses kleinen Ur-Irrtums: zu wollen, dass das, was für einen Einzelnen wahr ist, auch für die Masse oder für die Gemeinschaft wahr sein soll.
Man muss den Weg zeigen und die Türen öffnen, aber jeder muss dem Weg folgen, durch die Türen hindurch, und auf seine persönliche Verwirklichung zugehen.
Die einzige Hilfe, die man empfangen kann und darf, ist die Gnade, die sich in einem jeden nach seinem eigenen Bedürfnis äußert.
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