Auch der Ausguck war ständig besetzt, damit es keine unliebsamen Überraschungen gab.
Hasard wandte den Blick ab und konzentrierte sich auf das köstliche Mahl. Er wußte, daß er sich auf den Ausguck verlassen konnte, sollte wirklich etwas geschehen oder jemand auftauchen.
„Nach dem Essen setzen wir die Segel und werden ein Stück dieser Insel erkunden“, sagte er. „Wir wissen immer noch nichts über ihre Größe. Falls wir nichts Interessantes entdecken, segeln wir weiter auf unserem Kurs. Jetzt können wir zum Glück ja auch unsere Position genau bestimmen.“
„Mir gibt dieses mysteriöse Wrack immer noch Rätsel auf“, meinte Dan O’Flynn. „Wer hat es so total ausgeräumt, und wie sind die Leichen in den Laderaum gelangt?“
Der Seewolf zuckte mit den Schultern. Er hatte den Kopf halb zur Seite gedreht und blickte zu dem offenbar einzigen Riff der Insel, vor dem sie ankerten. Die Brandungswelle erhob sich in regelmäßigen Abständen, stieg donnernd und brüllend hoch und brach sich dann. Jedesmal stob eine riesige Gischtwolke auf.
„Ich weiß es leider nicht, Dan. Wenn wir das Rätsel nicht lösen, ist es auch nicht schlimm. Es sieht jedenfalls nicht danach aus, als würden wir eine Erklärung finden. Ein zweiter Gang zu dem Wrack erübrigt sich ebenfalls, denn er würde uns keine neuen Erkenntnisse bringen.“
„Na ja, wir haben ja den Kompaß“, murmelte Dan. „Das ist verteufelt viel wert.“
Der Kutscher und Mac räumten die Kummen ab und warfen die Schalen der Krustentiere über Bord. Die Zwillinge halfen. Danach überprüfte der Kutscher noch einmal die Vorräte, die sie auf dieser unbekannten Insel gefunden und an Bord gebracht hatten.
Sie hatten jetzt frisches Quellwasser, eine riesige Masse an Kokosnüssen, Brotfrucht, Papaya, Yamswurzeln und anderen Köstlichkeiten. In der Waschbalje tummelten sich Langusten, Hummer und Krebse. Für einige Zeit würden die Vorräte reichen. Aber solange sie sich hier noch aufhielten, würden sie alles mitnehmen, was zu kriegen war, denn niemand wußte, wann sie wieder auf eine Insel stießen. Das an Bord befindliche Kartenmaterial war nicht ergiebig genug. Zudem hatten es die Dons nicht gerade pfleglich behandelt.
Nachdem alles aufgeklart war, setzten sie die Segel und hievten den Anker. Das Beiboot wurde achteraus gehängt und vorläufig in Schlepp genommen.
Dan O’Flynn begann sofort damit, ihre augenblickliche Position festzustellen. Jetzt, da sie über einen Kompaß verfügten und die Sonne wieder schien, war das kein Problem.
„Ein bißchen grob über den Daumen gepeilt“, sagte er zu Hasard, „befinden wir uns zwischen dem achten und elften Grad südlicher Breite. Auf westlicher Länge liegen wir zwischen einhundertachtunddreißig und einhunderteinundvierzig Grad.“
„Dann haben wir inzwischen eine beachtliche Strecke zurückgelegt“, sagte Hasard. „Trotz Flauten und mitunter schlechten Wind. Wir werden wieder Koppelnavigation betreiben und eine provisorische Karte anfertigen, mit der wir uns besser orientieren können.“
Don Juan, der neben Hasard auf dem Achterdeck stand, hörte der Unterhaltung schweigend zu. Sein Blick war auf den Strand gerichtet, der immer noch einsam und verlassen dalag. Sie segelten jedoch so dicht unter Land, daß man mit bloßem Auge die Fußspuren erkennen konnte, die die Gruppe hinterlassen hatte.
„Hinter der Landzunge liegt das Wrack, Juan.“
Der Seewolf deutete voraus und wollte noch etwas hinzufügen, doch in diesem Augenblick meldete sich Batuti aus dem Ausguck.
„Genau voraus ist Land zu sehen – als schmaler feiner Strich.“
An der Kimm war wirklich nur ein kaum sichtbarer Strich zu erkennen, wenn man ganz scharf hinblickte. Aber zweifellos war es Land. Ob Insel oder Festland, das ließ sich nicht erkennen.
„Festland gibt es auf dieser Strecke nicht“, sagte Hasard, als Don Juan darauf anspielte. „Allerdings sind etliche Inselgruppen so groß, daß man sich leicht irren kann.“
Sie segelten weiter, bis sie die Landzunge erreichten, von der aus Edwin Carberry das Wrack entdeckt hatte. Alle Augen waren jetzt auf den Strand gerichtet.
Dann tauchte das Wrack auf. Unverändert lag es auf dem Strand, ein von der Hitze ausgetrocknetes, uralt scheinendes Schiff mit seinem grausigen Inhalt.
„Mich würde interessieren, durch welche Umstände es hier auf den Strand gelaufen ist“, sagte Don Juan nachdenklich.
„Darüber haben wir auch schon nachgedacht. Vermutlich ist es bei Sturm oder Nebel auf das Riff geraten und weitergedriftet, bis es auf dem Sand landete. Es kann aber natürlich auch unter ganz anderen Umständen hier gestrandet sein. Wir haben jedenfalls keinerlei Hinweise gefunden, die uns weiterhalfen.“
Das still auf dem Strand liegende Wrack verbreitete Unbehagen. Es wirkte wie eine Monstrosität aus einer anderen Welt.
Weit und breit zeigte sich keine Menschenseele.
Hasard war jedoch noch immer im Zweifel, ob die Insel nun bewohnt war oder nicht. Nach dem, was sie erlebt hatten, mußte es irgendwo Menschen geben. Schließlich war alles an Bord verschwunden, was nicht niet- und nagelfest war.
Ganz langsam verschwand das Wrack achteraus und wurde kleiner, bis es nicht mehr zu sehen war, denn jetzt rundeten sie wieder eine weit ins Meer ragende und dicht bewaldete Landzunge.
Hier ging es anscheinend von einer Bucht in die andere. Jetzt tat sich wieder ein Halbkreis aus Strand, Palmen und Dickicht auf. Auch der hohe Berg war deutlich mit seinem nebelumhüllten Haupt zu erkennen.
Die „Santa Barbara“ segelte weiterhin dicht unter Land. Das Wasser war so klar, daß man mühelos den Grund erkennen konnte. Die Tiefe mochte etwa sieben bis acht Yards betragen. Zum Auflaufen bestand also keine Gefahr. Sie näherten sich der Bucht aus östlicher Richtung und drehten dann, dem Buchtverlauf folgend, nach Süden ab.
Hasard blickte durch das Spektiv zu dem anderen Landstrich, doch der hatte sich noch nicht vergrößert. Es war nur eine schmale, etwas im Dunst liegende Linie über dem Wasser.
Als er das Spektiv auf den Strand voraus richtete und ihn absuchte, holte er plötzlich tief Luft.
„Gibt es etwas?“ fragte Don Juan.
„Ja, ich sehe eine Flagge. Sie ist an einem Flaggenstock im Sand befestigt.“
Einige Augenblicke sahen sich alle erstaunt an. Schweigen herrschte. Die ganze Insel schien plötzlich den Atem anzuhalten. Dann kam wieder Leben in die wie erstarrt dastehenden Gestalten.
Hasard gab den Kieker kommentarlos an Dan weiter, weil der nun einmal die schärfsten Augen von allen hatte.
„Kannst du erkennen, was es für eine Flagge ist?“ fragte der Seewolf.
„Offenbar eine spanische. Die Farben sind verblaßt, das Tuch ist ausgebleicht und verwittert. Ich halte es für eine spanische Flagge.“
„Also gibt es doch Überlebende“, sagte Hasard. „Wie sonst sollte sie hier wohl im Sand stecken?“
Er blickte Al Conroy an, den Waffen- und Stückmeister, der mit aufgestützten Armen auf dem Handlauf des Schanzkleids auf dem Quarterdeck lehnte und den Anblick des Strandes genoß.
Al Conroy nickte beruhigend.
„Wir sind für alle Fälle feuerbereit, Sir. Aber es sind keine Boote zu sehen – und auch keine Menschen. Eine Hütte kann ich ebenfalls nirgends entdecken.“
„Schon gut. Vorsicht ist immer angebracht. Haltet die Augen offen.“
Kurz darauf stand fest, daß es sich tatsächlich um eine spanische Flagge handelte. Ausgefranst und zerschlissen wehte sie an dem eingerammten Flaggenstock im Sand. Sie befand sich vor einer Gruppe von Kokospalmen. Wie lange sie dort schon wehte, ließ sich nicht einmal erahnen.
Sehr sorgfältig suchte Dan O’Flynn die Umgebung ab. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf.
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