„Zum Ufer natürlich.“
Die anderen konnten sich ein Grinsen kaum verkneifen.
Balnave fuhr fort: „Ich habe keine Angst wegen der Haie.“
„Ich auch nicht“, erwiderte Josef Untermayer.
„Sehr gut“, meinte Balnave. „Also, ich warte ab, bis wir vor einer Insel oder dem Festland ankern. Dann reiße ich aus. So bald wie möglich. Ich will nicht auf dieser verdammten Ducht vergammeln.“
„Wie willst du die Ketten lösen?“ wollte Almirante wissen.
„Das überlege ich mir noch.“
„Aha“, brummte Rinaldi. „Und der Bulle?“
„Dem klopfe ich was auf die Nuß.“
„Ganz einfache Sache“, sagte Beppe Grillo. „Der Bulle hält den Kopf hin und zeigt noch auf die Stelle, wo du ihm eins verbraten sollst.“
„Ihr könnt mich ruhig auf den Arm nehmen“, sagte Jim Balnave. „Mein Plan steht fest.“
„Ich werde dich begleiten“, sagte Josef Untermayer.
„Ich auch“, flüsterte Giorgio Almirante.
„Also, wir beiden hier sind auch mit von der Partie“, erklärte Beppe Grillo. „Aber nimm es mir nicht übel, Jim. Ich zweifle daran, daß es klappt.“
„Laß das meine Sorge sein“, murmelte der Engländer. „Wo, zur Hölle, befinden wir uns zur Zeit? Habt ihr eine Ahnung?“
„Südlich von Griechenland“, raunte Max Rinaldi. „Ich war früher mal hier, als ich noch vor dem Mast auf einem Handelsfahrer segelte. Wenn mich nicht alles täuscht, kann die Insel Kithira nicht mehr fern sein.“
„Kithira?“ wiederholte Balnave. „Ist das eine große Insel?“
„Es geht so“, meinte Rinaldi.
„Versteckmöglichkeiten?“ fragte der Engländer.
„Wald und Berge.“
„Ausgezeichnet“, sagte Jim Balnave. „Wenn wir es geschickt anstellen, entgehen wir den Häschern. Macaluso wird nach uns suchen lassen. Aber es hängt von uns ab, ob die Kerle uns packen oder nicht.“
Giorgio Almirante seufzte. „Da hast du recht. Aber laß uns jetzt lieber schweigen. Der Bulle glotzt schon wieder zu uns rüber.“
Die fünf Männer verstummten. Der Trommler bearbeitete sein Instrument. Der Bulle schritt auf und ab. Die Riemen knarrten, die Ketten rasselten, das Seewasser plätscherte an den Bordwänden. Das war die übliche Musik. Tag für Tag, Nacht für Nacht. Es änderte sich nie etwas. Man konnte dabei den Verstand verlieren.
Untermayer, Almirante, Grillo und Rinaldi glaubten, das Jim Balnave nicht mehr ganz richtig im Kopf sei. Alles, was er sagte, war reine Utopie. Die vier glaubten nicht daran, daß es eine reelle Chance gab, von dem Teufelskahn zu flüchten.
Und doch sollte es gelingen. Jim Balnave war fest entschlossen, sich und seine Kameraden zu befreien – mehr denn je. Es muß klappen, dachte er immer wieder, wir müssen es schaffen.
Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, stand auf dem Achterdeck der zweimastigen Dubas und spähte mit dem Spektiv voraus. Vier Tage waren vergangen, nachdem die Arwenacks Piräus verlassen hatten. Sie segelten auf südlichem Kurs und schickten sich jetzt an, die Südspitze von Hellas zu runden.
Der Kutscher hatte dem Seewolf an diesem Morgen gemeldet, daß die Trinkwasserreserven allmählich zur Neige gingen. Hasard wollte frisches Wasser an Bord nehmen, ehe die Vorräte knapp wurden. Vielleicht ergab sich auch die Möglichkeit, jagdbares Wild aufzustöbern. Das wäre eine willkommene Abwechslung für die Mannen gewesen.
Allerdings hatte Hasard nicht vor, die Festlandküste anzusteuern. Eine größere Insel befand sich seines Wissens auf ihrem Kurs. Sie hieß Kithira. Diese Insel wollte er ansteuern. Nach dem Kartenmaterial zu urteilen, das er in Händen hielt, war sie groß genug. Mit Sicherheit gab es dort mindestens eine Trinkwasserquelle. Und wahrscheinlich lohnte es sich auch, auf die Pirsch zu gehen.
Kurz vor Anbruch der Mittagsstunde meldete Bill, der Ausguck: „Land voraus! Eine größere Insel!“
Hasard konnte die Umrisse der Insel jetzt ebenfalls schwach in der Optik erkennen.
„Gut“, sagte er. „Das muß Kithira sein. Kurs auf die Insel, Männer.“
Pete Ballie, der Mann am Ruder, nahm eine leichte Kurskorrektur vor. Die Dubas ging etwas höher an den Nordwind, der vom griechischen Festland wehte, und mit einer Geschwindigkeit von gut sechs Knoten glitt der Zweimaster auf die fremde Insel zu.
Ben Brighton, der Erste Offizier und Bootsmann der Crew, trat zu seinem Kapitän. „Die Frage ist, ob wir auf der Insel Bewohner antreffen“, sagte er.
„Und welche Gesinnung sie vertreten“, fügte der Seewolf hinzu. „Wir werden wie üblich mächtig auf der Hut sein müssen, bis wir nicht alles genau ausgekundschaftet haben.“
„Wie groß ist die Insel deiner Meinung nach?“ fragte Don Juan de Alcazar, der sich inzwischen ebenfalls zu ihnen gesellt hatte, den Seewolf.
„So groß wie die Insel Man?“ fragte Edwin Carberry, der Profos, mit dröhnender Stimme.
„Nicht ganz so groß“, erwiderte Hasard. „Ich würde sie eher mit der Insel Wight vergleichen.“
„Na, das ist ein ganz schöner Brocken“, meinte der Profos.
„Wir werden sie in ihrem ganzen Umfang nicht erforschen können“, sagte Ben.
„Stimmt“, pflichtete der Seewolf ihm bei. „Aber für uns ist die Hauptsache, daß wir eine geschützte Bucht finden, in der wir ankern können. Alles andere entscheiden wir vor Ort.“
Anderthalb Stunden später fanden sie den richtigen Ankerplatz für die Dubas. Der Zweimaster war inzwischen nur noch zwei Meilen von der Insel entfernt. Aufmerksam spähten die Mannen zu dem Land hinüber.
Ein paar kleinere Inselchen waren Kithira im Osten vorgelagert. Sie wirkten wie Wellenbrecher. Zwischen den winzigen Eilanden und der Hauptinsel war das Wasser völlig ruhig. Es wirkte wie eine große, polierte Platte aus Blei. Nur ein schwacher Wellengang leckte träge über den Sandstrand.
Kithira selbst bot ein Bild der Harmonie und Schönheit. Obwohl es November war, grünte auf der Insel noch alles. Das lag an den Olivenbäumen und Schirmpinien, die auf den Hängen wuchsen.
Hier und dort waren auch Orangen- und Zitronenbäume zu erkennen, die jetzt schon Früchte trugen. Aus den Wäldern im Inneren der Insel flatterten Vögel auf. Möwen umkreisten die Dubas.
„Ein feiner Platz“, sagte Big Old Shane, der ehemalige Schmied von Arwenack. „Und die Hügel da sehen ganz danach aus, als ob dort Fasanen nisten.“
„Auf einen Versuch kommt es an“, brummte Old Donegal Daniel O’Flynn. Er schaute sich mit dem bei ihm üblichen Mißtrauen um. „Aber sperrt die Augen und Ohren auf, Freunde. Hier ist es zu ruhig, sage ich.“
„Aha“, meinte Ferris Tucker, als hätte er es nicht anders erwartet. „Witterst du ein böses Omen? Liegt ein Fluch auf der Insel?“
„Red doch keinen Unsinn, Mister Tucker“, entgegnete der Alte mit ärgerlicher Miene. „Streng lieber deinen Verstand an. So eine üppige Insel – glaubst du, daß die ganz unbewohnt ist?“
„Nee“, erwiderte der rothaarige Schiffszimmermann mit einer Grimasse. „Sie ist das ideale Versteck für Schnapphähne aller Art.“
„Siehst du, du hast es schon begriffen“, knurrte Old O’Flynn.
„Andere Schiffe habe ich nirgends entdecken können“, sagte Dan, sein Sohn.
„Das will nichts heißen“, sagte der Seewolf. „Wenn es hier Piraten gibt, könnten sie ihren Schlupfwinkel auch auf der anderen Seite der Insel haben. Und möglicherweise hockt oben in den Bergen ein Späher, der uns längst gesichtet hat. Also – Klarschiff zum Gefecht und höchste Vorsicht!“
„Aye, Sir“, antworteten die Mannen.
Die Drehbassen waren ohnehin geladen. Die Zwillinge füllten die bereitstehenden Kupferbecken mit glühender Holzkohle aus der Kombüse, so daß die Lunten im Falle eines Gefechts sofort entfacht werden konnten. Musketen und Tromblons wurden feuerbereit in Griffnähe auf dem Deck gelagert.
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